Das Kapitel Tabasco ist nur fünf Tage lang und schnell erzählt. Die Küste des Bundesstaates erinnert uns sehr stark an Kuba. Der Dialekt der tabasqueñ@s ähnelt dem kubanischen Spanisch. Wir kommen an vielen verfallenen Häusern vorbei. Die Menschen sind augenscheinlich ärmer als in Zentral- und Nordmexiko. Tropenstürme haben bereits vor einigen Jahren große Teile der Küstenstraße zerstört, welche jedoch nie wieder aufgebaut wurde. Die Einheimischen arrangieren sich und machen aus der Not eine Tugend. Sie haben Ausweichpisten über private Grundstücke geschaffen und erheben hierfür einen Wegzoll.
Wir hören die ersten Gringorufe – mit diesem schön gerollten R, wie ich es wohl nie aussprechen werden kann – die uns allerdings eher an Guatemala als an Kuba zurückdenken lassen. Ein Schlüsselerlebnis unserer ersten gemeinsamen Radtour durch den Dschungel im Norden Guatemalas waren die Kinder, die, wenn sie mich erblickten “¡Gringoooo!” riefen (womit im engeren Sinne US-Amerikaner und im weiteren Sinne alle weißen Männer bezeichnet werden). Die gleichen Kinder riefen anschließend umso überraschter und lauter “¡Mujeeeeer!” (Frau), wenn sie Marilyne als solche erkannten. In Tabasco rollen wir durch Dörfer, wo uns die Bewohner*innen zunächst zurückhaltend grüßen, um sich dann – wenn wir am Dorfausgang in den Rückspiegel blicken – auf der Straße zu versammeln und uns winkend hinterher zu schauen.
Was uns jedoch überhaupt nicht an Kuba erinnert, ist die Angst, welcher wir tagtäglich begegnen, seitdem wir auf dem mexikanischen Festland radeln. Kuba haben wir als eines der sichersten Reiseländer in Lateinamerika empfunden. Die Ängste der Kubaner*innen richten sich eher auf den Geheimdienst, der ihr gesamtes Leben kontrolliert, aber Tourist*innen normalerweise nicht behelligt. Mexiko überraschte uns in dieser Hinsicht. Wir hatten nicht erwartet, dass wir auf eine so verunsicherte Bevölkerung treffen würden. Mit Blick auf die Nachrichten kann ich die Angst der Mexikaner*innen gut nachvollziehen. Die Gefahr, Opfer einer Gewalttat zu werden, ist sehr real. Wir haben unterwegs Menschen getroffen, die uns erzählt haben, wie sie ausgeraubt, erpresst oder entführt wurden. In einem früheren Artikel erwähnte ich bereits, dass die Gewaltwelle mittlerweile auch (radreisende) Touristen*innen erfasst hat. Die Einheimischen warnen uns jeden Tag vor den Gefahren im nächsten Ort. Dabei ist es nie hier unsicher, sondern immer nur dort. Die Warnungen häufen sich, sobald wir die großen Überlandstraßen verlassen. Es ist eine große Herausforderung für uns, diese oft undifferenzierte Angst zu filtern, um unsere Route entsprechend zu planen. Die mexikanische Gesellschaft lebt in ständiger Angst vor ihrem eigenen Land. Mit genau dieser Angst wurde in den letzten Monaten auch im Wahlkampf gespielt. Wir begegnen Menschen, die nicht mehr verreisen oder wenn überhaupt nur noch in Orte fahren, wo sie bei Familienangehörigen unterkommen können. Die ältere Generation berichtet uns von einer Zeit, bevor die mexikanische Regierung den Drogenbanden den Krieg erklärt hat. Damals wussten sie zumindest, wo die Gefahren lauerten. Heute hingegen sei die Bedrohung diffus und es könne Dich überall erwischen. Nachdem wir in Tabasco sogar mehrmals am Tag von unbekannten Personen auf der Straße angehalten und gewarnt werden, sind wir verunsichert. Es ist sehr schwierig für uns, die Sicherheitslage realistisch einzuschätzen. Wir sind hierfür auf lokale Informationen angewiesen, die jedoch selten objektiv sind. So müssen wir uns immer wieder auf unser Bauchgefühl verlassen. Der zentrale Hauptplatz des Dorfes ist für uns zu einem Barometer für die Stimmung und die Sicherheitslage im Ort geworden. Wenn der zócalo ausgestorben ist, liegt etwas im Argen. Wenn jedoch im kiosco der Mariachi steppt und Tacostände die umliegenden Straßen säumen, interpretieren wir dies als gutes Zeichen. Meistens fühlen wir uns auf dem Lande wesentlich sicherer als in den großen Städten.