Die ersten tausend Meilen

Die ersten tausend Kilometer sind die schwersten, heißt es unter Radreisenden. Danach wird in Megametern gezählt. 😉 Nur dass in Alaska in Meilen gerechnet wird und die ersten 1.000 Meilen bereits 1.600 Kilometern entsprechen. Hier ist eben alles eine Nummer größer und so ist auch dieser Artikel ein bisschen länger geworden. Es wird Zeit für einen ersten Rückblick.

Alaska Range am Denali Highway

Ampeln kreuzen wir in den ersten 1.600 Kilometern genau zwei, die den Besucherstrom am Eingang zum Denali National Park regeln.

Bartwuchs: Gutgelaunter Grenzbeamte bei der Einreise nach Alaska: „Woran erkennst Du, ob Radfahrer*innen nach Norden oder Süden reisen? An der Länge der Bärte.“

Chill-out-Tage legen wir mindestens zwei pro Woche ein.

Mittagsruhe in der Hängematte

Distanzen: Die Entfernungen zwischen den Ortschaften in Alaska und im Yukon sind riesig. Alaska ist fast fünfmal so groß wie Deutschland und es wohnen weniger als eine Million Menschen hier. Mitunter liegen bis zu 300 Kilometer zwischen zwei Tankstellen, wo wir unsere Essensvorräte auffüllen können. Den ersten Supermarkt erreichen wir nach über 1.000 Kilometern.

Nächstes Dorf in 107 Kilometern

Essen: Wir versuchen trotzdem möglichst abwechslungsreich zu essen. Die Tütensuppen haben wir aus unserem Menü gestrichen, weswegen wir kiloweise Karotten und Zwiebeln durch die Gegend fahren. Ansonsten wachsen hier oben noch diverse Kohl- und Rübensorten, Radieschen, Bohnen, Kartoffeln, Äpfel, Haskap- und Blaubeeren und im Gewächshaus auch Salat und Tomaten. Die meisten Nahrungsmittel haben aber eine lange Anreise aus dem Süden hinter sich.

Karotten & Zwiebeln
Marilyne bäckt Brot über dem Lagerfeuer. Auf dem Trangia lassen sich auch Tortillas und Crêpes zubereiten.

Fahrradfahrer*innen treffen wir viele, da es hier nur wenige Straßen gibt. Die meisten sind auf langer Meile in Richtung Ushuaia (Feuerland/Argentinien) unterwegs. Wir haben schon drei radreisende Pärchen getroffen, die ebenfalls bei Marilyn und Simon in Fairbanks übernachtet und deswegen schon von uns gehört haben. Da wir wesentlich langsamer reisen, holen sie uns unterwegs ein.

Begegnung mit Christiane & Siddhartha (auf dem Weg nach Ushuaia)

Die einzige merkwürdige Begegnung machen wir mit einem US-amerikanischen Radfahrer, der mitten in der Nacht völlig betrunken mit seinem Rad über den Zeltplatz stolpert und nachdem er erfährt, dass wir zur Hälfte aus Deutschland kommen, uns und den ganzen Zeltplatz lautstark mit Rammsteinmusik beschallt. Das ist das erste und bislang einzige Mal, dass wir uns über die Lautstärke anderer Gäste beschweren, denn unsere Toleranzgrenze ist – mit zwei Kindern – für gewöhnlich sehr hoch. Am nächsten Morgen weckt er uns mit einer Laudatio auf Donald Trump.

General Delivery lautet die Antwort der Einheimischen auf die Frage, wie sie sich außerhalb der großen Städte versorgen. Sie bestellen online und lassen sich den Einkauf in die nächste Postfiliale liefern. Die Post transportiert sogar eisgekühlten Fisch. Viele haben ein einiges Postfach, aber mit dem Stichwort General Delivery in der Adresszeile lassen sich Pakete auch ohne Postfach postlagernd empfangen. So können wir unsere kaputten Ausrüstungsgegenstände ersetzen (undichter Deckel vom Wassersack, gebrochene Gegenlichtblende von der Kamera, löchrige Anhängerreifen … ).

Himmelsrichtungen: Bislang sind wir nicht sehr zielstrebig in alle vier Himmelsrichtungen gefahren. Zwar ist natürlich der Weg das Ziel, aber nun müssen wir uns ein bisschen sputen, um noch vor dem Winter in Kalifornien anzukommen. So bleiben noch ein paar Radreiseträume für einen nächsten Besuch: Die Highways durch die arktische Tundra (Dalton & Dempster) oder die (Halb-)inseln Kenai & Kodiak. Seitdem wir Kanada erreicht haben, radeln wir straight south. Da es in Alaska entlang der Pazifikküste keine Straßen gibt, werden wir die …

Inside Passage mit der Fähre entdecken. Vorbei an Fjorden und Gletschern wollen wir über …

Juneau, die Hauptstadt Alaskas, und Prince of Wales Island wieder zurück nach …

Kanada radeln. Über Haida Gwaii und Vancouver Island geht es dann weiter Richtung lower 48 (wie die Alaskaner*innen den Rest der USA nennen). Kanada gefällt uns bislang sehr gut. Der Kulturschock beim Grenzübertritt ist ausgeblieben. Alaska und der Yukon ähneln sich sehr auf den ersten Blick. Die Kanadier*innen sind vielleicht ein bisschen weniger chatty, aber das ist vielleicht auch nur eine Momentaufnahme und kommt mir außerdem entgegen. 😉

Lagerfeuer: Alaska und Kanada sind Lagerfeuerparadiese. Ich habe – trotz einiger Pfadfinderlager – noch nie so viele Lagerfeuer wie diesen Sommer entfacht.

Mika & Marla holen Holz
Stockbrot auf dem Lagerfeuer
Überbackenes Brot auf dem Lagerfeuer

Mücken gibt es bislang weniger als erwartet. Unser Moskitozelt, welches wir eigentlich als Essenszelt dabei haben – weil wir in unserem Zelt nicht essen, damit die Bären fern bleiben – dient aber auch als guter Schlafzeltersatz.

Kuschelig, aber wenn wir die Kinder in der Mitte übereinander stapeln, passen wir zu viert rein.
Auch sehr praktisch unterm Tarp, wenn zwischen Straße und See mal nicht so viel Platz ist.

Nachtschlaf: Eine von Marilynes größten Sorgen war – neben den Bären – der Schlaf unserer Kinder unter der Mitternachtssonne. Meine größte Sorge war und bleibt der Verkehr auf den Straßen. Zumindest um den Schlaf müssen wir uns nicht mehr sorgen. Die Kinder gehen zwar – wie die meisten Kinder in Alaska im Sommer – sehr spät schlafen (selten vor 23 Uhr), aber schlafen dafür lange aus. Den restlichen Schlaf holen sie im Anhänger nach. An den Radeltagen klingelt um neun der Wecker, damit überhaupt jemand aus unserer Familie aufsteht. 😉 Mittlerweile wird es aber gegen Mitternacht wieder richtig dunkel. Weiter im Süden werden wir unseren Rhythmus bald anpassen müssen.

Mittagsschlaf auf der Denali Park Road

Off-road: Manchmal wünschte ich, wir könnten die Highways mit unseren Rädern verlassen. Zwar bekommen wir einen guten Eindruck von der Weite des Landes, wenn wir tagelang zwischen zwei Dörfern radeln, aber wir bleiben doch immer in der Zivilisation.

Wenn wandern mit Kindern nicht so anstrengend wäre, könnten wir hier einfach geradeaus laufen.
Wenn wir ein Kanu hätten, könnten wir auf dem Yukon River bis zur Beringsee paddeln.

Patriotic sugar cookies sind nicht die besten Kekse der Welt, aber wenn der kleine Hunger am Berg kommt, tun wir fast alles für das (uns fremde) Vaterland.

Eigentlich sollen diese Kekse Soldat*innen bei Laune halten.

Quengelnde Kinder bleiben nicht aus. Bislang quengeln sie aber auch nicht mehr als zu Hause. Mika hatte einen Tag Fieber, aber ansonsten sind wir alle wohl auf. Unsere Reiseapotheke haben wir bis auf ein paar Pflaster noch nicht angerührt.

Regen hielt sich bislang in Grenzen. Der Mai war ein guter Monat, um unsere Radreise zu beginnen. Zwar hatten wir nachts manchmal Frost, aber tagsüber war es angenehm warm und den ersten richtigen Regentag hatten wir erst Anfang Juli.

Im Regen werden die Schotterpisten zu Schlamm.
Mika & Marla freuen sich über die Pfützen.
Mika weiß um die heilende Wirkung von Schlammmasken.

Small Talk: Mit den Kindern werden wir unterwegs oft angesprochen. Meistens lauten die Fragen: Wohin? Woher? Warum? Mitunter entwickeln sich aber auch spannende Diskussionen. So sind wir bereits einige Male gefragt worden, wie wir mit dem sogenannten „Flüchtlingsproblem“ in Deutschland zurecht kommen. Auch Trump ist immer wieder ein Thema.

Tagesetappen: Wir fahren im Schnitt 30 bis 50 Kilometer am Tag, auf Schotterpisten manchmal nur 20, auf Asphalt mit Rückenwind auch mal 80 Kilometer. Das lässt uns noch genug Zeit für Spiel, Spaß und Spannung mit den Kindern. Der Zeltabbau am Morgen dauert drei bis fünf Stunden zwischen Aufwachen und in die Pedale treten. Das einzige Mal, dass wir vor 12 Uhr losgefahren sind, war kurz vor der kanadischen Grenze, wo wir durch die Zeitumstellung gleich wieder eine Stunde verloren haben. Meistens radeln wir zwei, drei Stunden, machen eine ausgiebige Mittagspause und fahren dann (manchmal) noch ein, zwei Stunden weiter, bevor wir am Abend wieder unser Zelt aufschlagen und nach dem Abendbrot unser Essen in die Bäume hängen.

Zugelassene Höchstgeschwindigkeit des Anhängers: 25 km/h pro Kind

Unterstützung erhalten wir viel, sowohl von Einheimischen als auch Tourist*innen. Der Straßenbauarbeiter schenkt uns einen Apfel, das Rentnerpärchen im Wohnmobil Mandarinen und Schokolade, die Nachbarin vom Zeltplatz bringt uns frischen Fisch vorbei und die Jugendlichen reichen uns an einem steilen Anstieg geschnittene Melonenscheiben aus dem Autofenster. Am Anfang fand ich es gewöhnungsbedürftig so viel Essen geschenkt zu bekommen, aber es ist einfach eine andere Art zu reisen mit zwei Kindern im Gepäck. Als ich noch alleine (oder zu zweit) auf dem Rad unterwegs war, hatte ich auch viele spannende Begegnungen, aber die Kinder ziehen noch einmal mehr die Aufmerksamkeit auf sich. Uns haben bereits zweimal völlig fremde Menschen, mit denen wir uns gerade einmal eine Viertelstunde unterhalten haben, spontan mit jeweils 100 Dollar unterstützt. Ich war sehr gerührt und habe eine Weile darüber nachgedacht, ob ich solche Geschenke überhaupt annehmen kann, dachte mir dann aber, dass wir einfach versuchen diese Großzügigkeit an anderer Stelle weiterzugeben.

Verkehr: Bislang ließ es sich auf allen Highways gut radeln. Auch die Schotterpisten sind in einem hervorragenden Zustand. Lediglich die (mitunter kilometerlangen) Baustellen mit losem Schotter sind ungemütlich. Die größeren Highways haben einen Seitenstreifen. Auf den kleineren Straßen sind in der Regel angenehm wenige Autos unterwegs. Die meisten Autos überholen uns rücksichtsvoll auf der Gegenfahrbahn. Von den entgegenkommenden Fahrzeugen werden wir oft gegrüßt – vom lässigen Zeigefinger, über Winken, bis hin zu lautstarkem Anfeuern ist alles dabei. Wenn ein T3 vorbeifährt – und davon gibt es erstaunlich viele in Alaska – hebe ich immer noch reflexartig die Hand. 😉 Sie wundern sich natürlich, aber grüßen freundlich zurück. Wir müssen uns erst wieder daran gewöhnen, dass wir in der Kategorie Zweiräder unterwegs sind und uns jetzt die Motorradfahrer*innen grüßen.

Dank der Großeltern radeln wir nun sichtbarer im Straßenverkehr.

Seitdem wir in Kanada sind, mussten wir eine Handvoll unschöner Überholmanöver über uns ergehen lassen. Vielleicht liegt es daran, dass es auf den letzten paar hundert Kilometern keinen Seitenstreifen mehr gab. Da es (vor allem auf Schotterpisten) unangenehm und gefährlich ist, wenn uns die Autos zu dicht überholen, fahren wir in der Regel soweit auf der Straße, dass sie bei Gegenverkehr (und das kommt nicht all zu oft vor) abbremsen müssen. Die meisten Autofahrer*innen machen das auch bereitwillig, aber es gibt eben auch einige wenige, die uns in den Straßengraben hupen oder die ganz eiligen Urlauber*innen, die sich mit ihren riesigen Wohnmobilen trotzdem an uns vorbei quetschen müssen. Gott sei Dank warnt mich mein Rückspiegel vor den all zu Verrückten. Naja, das ist ein kleiner Vorgeschmack auf das, was uns weiter im Süden erwarten wird. Wir werden die relativ leeren Straßen hier oben noch vermissen.

Warm Showers: Laird, unser zweiter Gastgeber, fängt uns auf dem Klondike Highway im Yukon ab. Er ist zwar gerade in die andere Richtung unterwegs, um in den Bergen wandern zu gehen, aber er erklärt uns, wo sein Haus steht und der Schlüssel liegt. Wahnsinn! Würden wir das in Berlin auch machen? Wir hatten eigentlich gar nicht geplant bei ihm zu übernachten, freuen uns aber über die spontane Planänderung und entdecken so eine gut organisierte indigene community.

Indigene community am Yukon River
Marlas Augen glänzen, als sie die Bücher in der Bibliothek und den Spielplatz entdeckt.
Marla & Mika baden im reißenden Dorfbach.

XXL: Nicht nur die Meilen sind länger als die Kilometer, sondern auch alles andere ist eine Nummer größer: Im Supermarkt gibt es alles in Familienpackungen. Wir sind zwar eine Familie, aber 20 Rollen Klopapier sind dann doch ein paar zu viele. 😉 Die non-organic Blaubeeren sind so groß wie Erdbeeren und schmecken dafür nach gar nichts. Die Wohnmobile sind mitunter länger als 10 Meter und hintendran hängt noch ein PKW. Die Nationalparks sind größer als manche Länder und selbst die Ameisen sind größer als bei uns.

Yukon: Alaska ist schon über weite Strecken leer, aber im Yukon ist es einsam. 25.000 von 35.000 Einwohner*innen wohnen in Whitehorse, der Hauptstadt des Territoriums. Die restlichen 10.000 (!) verteilen sich auf einer Fläche größer als Deutschland. So richtig einsam wird es natürlich erst abseits der Highways. Uns bleibt aber zumindest das Gefühl, dass wir hunderte Kilometer links und rechts von der Straße laufen könnten, ohne einem Menschen zu begegnen.

Zelten in Alaska und Kanada ist ein Vergnügen. Seit zweieinhalb Monaten haben wir jede Nacht im Zelt geschlafen. Ein- bis zweimal die Woche übernachten wir auf einem Zeltplatz. Es gibt viele staatliche Zeltplätze, auf denen ein Stellplatz 5 bis 15 Dollar pro Nacht kostet. Abgerechnet wird mit einer Kasse des Vertrauens. Sie sind meistens sehr einfach und naturnah gehalten. Es gibt keinen Strom und kein fließend Wasser. In der Regel gibt es nur Stellplätze und keine offenen Wiesen wie auf deutschen Zeltplätzen. Manchmal werden die Stellplätze noch in A- und B-sites unterteilt, aber selbst auf einem B-site haben wir mehr als genug Platz mit unserem (nicht gerade kleinen) 4-Personen-Tunnelzelt. Zu unseren Platznachbar*innen müssen wir schon mal 30 Meter durch den Wald laufen. Die privaten Zeltplätze und RV Parks ähneln oft eher Parkplätzen. Sie sind deutlich teurer (15 bis 35 Dollar), bieten dafür aber Duschen, Waschmaschinen und Internet. Am liebsten zelten wir aber immer noch wild. Bislang haben wir immer ein schönes Plätzchen gefunden. Auch das werden wir weiter im Süden vermissen.

Nachtlager mit Blick auf die Alaska Range

Und waren die ersten tausend Meilen nun die schwersten? Das werden wir natürlich erst nach den zweiten und dritten tausend Meilen wissen. 😉 Aber wenn ich daran zurückdenke, wie wir im kleinsten Gang auf halbwegs ebener Strecke in Fairbanks gestartet sind, hat sich bereits ein kleiner Trainingseffekt eingestellt. Unsere Tagesetappen werden immer länger. Wir haben unseren Reiserhythmus gefunden und alle haben ihren Platz und ihre Aufgaben im Radelalltag. Unser Packkonzept ist perfektioniert und der Stauraum unserer Radtaschen wird bis in den letzten Winkel ausgenutzt. Wir sind guter Dinge und haben Guatemala fest im Blick.

Nur noch 6.000 Meilen bis Guatemala. 🙂

Eine Antwort auf „Die ersten tausend Meilen“

  1. Was für eine schöne Idee, die Eindrücke mit dem Alphabet zu ordnen. Den Eindruck der weniger “chatty“ Kanadier habe ich auch. Und habe schon ein paar mal beim Radeln drüber nachgedacht.

    Wir sind seit Prince Rupert wieder auf dem Festland, wollen nach Jasper und Banff. Von daher wird es wohl eher weiter im Süden ein Wiedershen geben. Wir freuen uns schon mal drauf!

    Hasta luego

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