“Auf vielen Straßen dieser Welt, habt Ihr Euch sorglos rumgetrieben, so ohne Zelt und ohne Geld, der Tippelei verschrieben.”
Wenngleich wir schon in Washington und Oregon vermehrt Obdachlose getroffen haben, schockiert uns die Misere, welcher wir in Nordkalifornien begegnen. Die vielen Obdachlosen passen nicht in unser (beschränktes) Bild von Kalifornien und lassen die US-amerikanische Gesellschaft in einem anderen Licht erscheinen. In Städten wie Eureka radeln wir auf Nebenstraßen, die von den locals Hobo Street genannt werden. Am Stadtrand ist der ganze Wald voller obdachloser Menschen. Wir suchen uns ein freies Plätzchen und bauen unser Zelt auf. Unterwegs werden wir immer wieder vor den homeless people gewarnt. Der Umgang mit den Obdachlosen in den Vereinigten Staaten ist von Angst bestimmt. Wir hingegen verstehen uns gut mit unseren Zeltnachbar*innen, da wir einiges gemein haben. Andererseits fühlt es sich unangenehm privilegiert an, dieses Los freiwillig gewählt zu haben.
Wenig Geld haben auch die State Parks. Sie leiden seit Jahren unter Budgetkürzungen. Mitunter werden ganze State Parks outgesourct und privat betrieben. Das bedeutet u.a., dass es in diesen State Parks keine Ranger*innen mehr gibt. Seitdem wir in Kalifornien sind, gibt es auf den Zeltplätzen auch keine Seife mehr. Dafür kosten die hiker/biker sites nur noch fünf Dollar pro Person (in Oregon waren es acht Dollar pro Person und in Washington zwölf Dollar pro Zelt) und wir haben stets das gesamte hiker/biker camp für uns allein.
Um nach unseren unschönen Erfahrungen in Oregon noch etwas Positives über den Verkehr zu schreiben: Der Highway 101 ist nah am Wasser gebaut und der Ozean fordert immer wieder seinen Tribut, sodass sich viele Baustellen aneinander reihen. Straßenbauarbeiten bedeuten hier allerdings nicht wie in Alaska kilometerlange Strecken über losen Schotter, sondern einspurige, aber in der Regel asphaltierte Abschnitte, durch die wir möglichst in einer Ampelphase radeln. Danach haben wir im Zehnminutentakt die ganze Fahrbahn für uns. 🙂 Außerdem gibt es wunderschöne Nebenstrecken durch die redwoods. Parallel zum neuen Freeway schlängelt sich der alte Highway durch die Wälder.
In Leggett winken wir den letzten Raser*innen hinterher (die auf dem 101 bleiben) und biegen auf den legendären Highway 1 ab. Über einen schönen Pass erreichen wir wieder die Küste. Die Strecke ist kurvig, die Autos fahren gemütlich und wir können wellenförmig mit dem flow radeln. Da es keinen Seitenstreifen gibt, nutzen wir die Haltebuchten, um den rückwärtigen Verkehr vorbei zu lassen. Im Optimalfall funktioniert das so gut, dass weder wir noch die Autos abbremsen müssen.
Neben dieser horizontalen Wellenbewegung gibt es allerdings auch noch die vertikale, denn die Küste ist sehr hügelig. Als am ersten Berg meine Kette durchrutscht, wird es Zeit alle Metallteile am Antrieb meines Rades auszutauschen. Der Anhänger macht sich bemerkbar. Der Zahnkranz ist nach siebentausend Kilometern verschlissen und auch das kleine Kettenblatt und die Schaltungsrädchen sind abgefahren. Mit frischem Material unter der Füßen kommen wir zügig voran. Ticke-ticke-ticke-ticke-tick! Das herrliche Klicken der Gangschaltung und das Rauschen der Meereswellen wird lediglich von den Kindern übertönt, die hinten im Anhänger „rápido, rápido“ brüllen.
Noch dazu scheint den ganzen Dezember die Sonne. Welch’ angenehme Abwechslung, nachdem wir uns im November in Oregon gefreut haben, wenn der Regen von oben und nicht von vorn kam. 😉
Hier stimmen unsere Eindrücke auch wieder mit den Bildern von Kalifornien in unseren Köpfen überein: Statt Pick-ups überholen uns Cabrios und Surfer*innen in klapprigen VW-Bussen. An den Klippen hängen Kiffer*innen, die uns in Marihuana-Wolken einhüllen, nachdem wir uns die Serpentinen hoch gekämpft haben. In den redwoods gedeiht das Gras hervorragend und mittlerweile sogar legal. Nachdem der Konsum und Besitz in Washington und Oregon bereits legalisiert wurde, haben sich letztes Jahr auch die Kalifornier*innen dafür ausgesprochen. Wir passen unser Sicherheitskonzept der flower power an und betreiben nun ein Blumenrad am Anhänger – natürlich mit Windenergie. 😉
Der Wind bläst uns die letzten Steigungen hinauf. Die Marin Headlands fordern uns mit 18 Prozent noch einmal heraus, bevor wir die Aussicht auf die Golden Gate Bridge genießen können.
Liebe Leser*innen, vielen Dank für Eure regen Kommentare und Zuschriften! Wir verabschieden uns mit einem Lied auf den Lippen in einen radfreien Monat mit unseren Familien und sind gespannt, was das nächste Jahr bringen wird. Auch wenn die Einheimischen den Spitznamen Frisco nicht mögen, ist es unmöglich, diesen Shanty leise zu singen. 😉 Frohe Weihnachten!
„Let’s go for Californio, heave away, Santiano. Sie jagt vor dem Wind, vorwärts hin pfeilgeschwind, bis zum gold’nen Port von Frisco.“