Wenn Radreisen eine olympische Disziplin wäre, müsste sie hier an der Punta Olímpica ausgetragen werden. Wir stehen das erste Mal mit Kind & Anhänger auf einem Viertausender-Pass und blicken auf die umliegende Bergwelt der Cordillera Blanca – ein großartiges Gefühl! Im zweiten Anlauf haben wir die letzten Serpentinen bezwungen und auf 4.736 Metern den höchsten Straßentunnel der Welt erreicht.
Am Tag zuvor mussten wir in den Serpentinen wieder umkehren. Aufgrund der dünnen Luft kamen wir langsamer voran als gedacht und waren am Nachmittag gezwungen, eine schwere Entscheidung zu treffen. Da wir nicht von einem heraufziehenden Gewitter auf den Serpentinen überrascht werden wollten, fuhren wir wieder vier Kilometer hinunter. Umdrehen ist auf Radreisen nie einfach. Noch schwerer fiel es uns, nachdem wir bereits eine Stunde harte Beinarbeit investiert hatten. Doch zum Glück ist Radreisen keine olympische Disziplin und nach bald siebzehntausend Kilometern müssen wir auch niemanden mehr etwas beweisen. 😉
Doch wo sind eigentlich Marilyne und Mika? Sie haben sich entschieden, ihre Kräfte zu schonen und unten im Tal zu bleiben. So können Marla und ich die Rundtour um den Huascarán mit leichtem Gepäck radeln. Es ist das erste Mal auf dieser Reise – nach über zwei Jahren – dass wir uns für ein paar Tage trennen. Vielleicht lag es auch daran, dass uns gestern die Energie am Pass fehlte. 😉
Die Cordillera Blanca genießt in Reiseradlerkreisen einen gewissen Kultstatus, da Du auf dem Fahrrad selten so einfach ins Hochgebirge kommst und so dicht an schneebedeckten Gipfeln und Gletschern vorbeiradeln kannst. Die Gebirsgkette ist hundertachtzig Kilometer lang und zwanzig Kilometer breit. Achtzehn ihrer Gipfel ragen über sechstausend Meter hinaus. In Europa gibt es keinen einzigen Berg in dieser Höhe. Auch uns hat die Weiße Kordillere magisch angezogen. Sie war fester Bestandteil unser Routenplanung in Peru. Die letzten Kilometer waren von aufgeregter Vorfreude auf die Huascarán-Runde geprägt.
Der erste Pass ist geschafft. Wir sausen durch den Tunnel und auf der anderen Seite dreißig Kilometer nach Chacas hinunter. Auch der nächste Tag beginnt mit einer asphaltierten Abfahrt. Doch hinter Acochaca hört das Vergnügen auf. Den Rest der Runde legen wir auf Feldwegen und Schotterpisten zurück.
Vor uns liegt der Paso de Pupash, welcher mit 4.050 Metern der niedrigste der drei Viertausender-Pässe auf der Huascarán-Umrundung ist. Doch loser Schotter und steile Anstiege lassen ihn zum anstrengendsten werden. Auch die Landschaft ist nicht mehr so aufregend. Während die Bergwelt der Cordillera Blanca in einem Nationalpark mehr oder weniger geschützt wird, sind die Täler auf beiden Seiten der Gebirgskette stark durch menschliche Nutzung gekennzeichnet. Hinzu kommt, dass ich mit dem schlimmsten Durchfall seit Beginn der Reise zu kämpfen habe. Seitdem wir die Grenze nach Mexiko überquert haben, ist der Durchfall unser ständiger Begleiter geworden. Wir haben uns daran gewöhnt. Jedoch hat es mich bislang noch nie so heftig erwischt wie hier in der Cordillera Blanca. Normalerweise vergehen die Magenunstimmigkeiten nach ein, zwei Tagen. Dieses Mal beschäftigen sie mich vier lange Tage. Insgesamt brauchen wir für die Runde neun Tage und damit ungefähr doppelt so lange, wie die Radreisenden normalerweise benötigen. Wir lassen uns davon jedoch nicht stören, denn wir sind ja schließlich auf Reisen und nicht auf der Flucht. 😉
Nachdem auch noch ein unachtsamer Autofahrer gegen unseren Anhänger fährt, verlassen wir das Dorf fluchtartig, um wieder in die Ruhe des Nationalparks einzutauchen. Der Schotter auf dem Weg zum letzten Pass der Runde lässt sich ein bisschen besser radeln. Trotzdem kommen wir nur sehr langsam voran. Im Schnitt fahren wir vier Stundenkilometer, sodass wir mit kurzen Verschnaufpausen immerhin drei Kilometer in der Stunde schaffen. Für die gut dreißig Kilometer lange Auffahrt brauchen wir zwei Tage.
Die Abfahrt zieht sich in die Länge. Auf der holprigen Piste brauchen wir fünf Stunden reine Fahrzeit für die fünfundvierzig Kilometer bis ins Tal. Wir genießen derweil die pittoreske Landschaft und die Vorfreude, heute Abend den Rest der Familie wieder in die Arme schließen zu dürfen. Es zeichnet sich ab, dass wir es nicht mehr im Hellen bis nach Yungay schaffen werden. Da sich die Straße aber mittlerweile besser rollen lässt, entscheiden wir uns dafür, eine Nachtfahrt zu wagen. Normalerweise radeln wir aus Sicherheitsgründen nie im Dunkeln. Heute wissen wir jedoch, wo wir erwartet werden und es ist kaum Verkehr unterwegs. Wir schalten all unsere Lampen ein und sind damit weitaus heller erleuchtet als manch ein Auto. Marla trällert fröhliche Lieder und ich versinke in Gedanken an unsere letzte Nachtfahrt, bei der wir vor anderthalb Jahren am Big Sur in Kalifornien heimlich durch eine Straßensperrung fuhren. Wenn die Rahmenbedingungen stimmen, ist es eine irreal schöne Sensation, unter dem Sternenhimmel zu radeln. Schade eigentlich, dass wir uns das nicht öfter erlauben können.