Die Gischt der Autoreifen spritzt uns ins Gesicht, während wir durch die Vororte von San Francisco radeln. Die Küste begrüßt uns mit Regen und Sturm. Es ist kalt und ungemütlich, aber wir freuen uns trotzdem wieder auf den Rädern zu sitzen. Wir hatten dieses Wetter schon fast wieder vergessen, nachdem wir die Feiertage mit unseren Familien in der Wüste verbracht haben.
Unsere Fahrräder konnten wir derweil bei Hannah unterstellen. Sie lebt zusammen mit zwanzig Mitbewohner*innen in einer geräumigen viktorianischen Villa mitten in Berkeley.
Nachdem die Nationalparks in Nevada, Utah, Arizona und Kalifornien im Zeitraffer an uns vorbei gesaust sind, genießen wir die Entschleunigung beim Radfahren. Auf dem Fahrrad finden wir die Ruhe, um die Eindrücke dieser grandiosen Natur zu verarbeiten. Mit frischen Reifen und Kugellagern am Anhänger geht es zurück an die Küste. Es ist bereits das fünfte Reifenpaar auf dieser Reise. Die Reifen hielten je nach Qualität zwischen 570 km und 4.000 km. Der enorme Abrieb ist vor allem auf die schiefe Spur in Kombination mit hoher Zuladung zurückzuführen. Wir fahren den Anhänger am Rande des zulässigen Gesamtgewichts.
Die neuen Kugellager verringern das Spiel an der Achse. Hoffentlich können wir so das Leben der neuen Reifen ein bisschen verlängern. Das Problem der schiefen Spur ist damit allerdings nicht gelöst. Es scheint sich um eine konstruktionsbedingte Herausforderung von zweispurigen Anhängern zu handeln. Da die Räder für den Transport schnell demontierbar sein sollen, ist die Verbindung zwischen Rad und Anhänger naturgemäß wackelig.
Wir nähern uns der mexikanischen Grenze und der lateinamerikanische Einfluss ist unverkennbar. Immer mehr Orte tragen spanische Namen und manche Dörfer sehen bereits aus wie in Mexiko. In manchen Läden sprechen die Verkäufer*innen ausschließlich spanisch. Auf den Artischocken-Feldern arbeiten Mexikaner*innen. Auf den Baustellen kommen wir mit Guatemaltek*innen ins Gespräch, die den Verkehr regeln. Sie haben mitunter eine jahrelange Reise aus ihren Heimatländern hin sich. Unser Privileg ist es, in die entgegengesetzte Richtung zu reisen und nur ein halbes Jahr durch Mexiko zu brauchen.
Wir teilen den Küsten-Highway mit Rennradler*innen, Cabrios und VW-Bussen – ein untrügliches Zeichen dafür, dass wir auf einer fahrradtauglichen Straße unterwegs sind. Je näher wir Big Sur kommen, desto leerer wird die Straße, weil ein Erdrutsch den Highway 1 für Autos unpassierbar macht.
Bereits in Alaska wurden wir vor dem Mud Creek slide gewarnt. Die Straße ist hier mit einem großen Teil des Berges einfach ins Wasser gerutscht. Im Internet haben wir uns beeindruckende Luftaufnahmen angesehen und mit jedem Kilometer schwinden unsere Hoffnungen, die Straßensperrung doch noch passieren zu können. Wir bereiten uns bereits mental auf einen steilen Umweg durch die Berge vor. Hierfür müssten wir einen knapp eintausend Meter hohen Pass überwinden, um auf der anderen Seite wieder auf Meeresniveau hinabzufahren. Deswegen klammern wir uns an unseren letzten Funken Hoffnung: Es kursiert das Gerücht, dass sich Reiseradler*innen nachts an der Straßensperrung vorbei schleichen dürfen. Normalerweise funktioniert der Buschfunk unter den Radreisenden ziemlich gut, aber diesmal haben wir noch von niemandem gehört, die*der die Absperrung tatsächlich überwunden hat.
Wir radeln bis zur Absperrung und befragen den Wärter. Seine Antwort lautet: „Um 17.30 Uhr machen wir Feierabend und danach ist keiner mehr hier.“ Pünktlich zum Sonnenuntergang verlassen die letzten Fahrzeuge die Baustelle und wir haben freie Fahrt! 🙂 Es gibt zwar noch keine neue Straße, aber bereits eine gut zu befahrene, provisorische Schotterpiste. Nach einer Meile haben wir wieder Asphalt unter den Rädern. Da die Straße noch für einige Meilen gesperrt ist, radeln wir ohne Verkehr unter dem Sternenhimmel weiter, bis wir einen Schlafplatz finden.
Südlich von Big Sur finden wir uns auf dem Seitenstreifen des Freeways 101 wieder. Die Küste wird wieder urbaner mit all den bereits in Oregon beschriebenen Konsequenzen für Radfahrer*innen. In den Städten gibt es eine erstaunlich gut ausgebaute Fahrradinfrastruktur. Teilweise gibt es sogar Kreisverkehre an Radwegkreuzungen. Zwischen den Städten sind jedoch spätestens ab Malibu ungemütlich viele Kraftfahrzeuge unterwegs. Die Autos sind jedoch Rennradfahrer*innen gewöhnt und lassen uns erstaunlich viel Platz beim Überholen.
Rings um Los Angeles wird es immer schwieriger Zeltplätze zu finden. Es gibt, wenn überhaupt, lediglich Stellplätze für Wohnmobile. Zelte sind nicht erwünscht.
In der Metropolregion L.A. leben dreizehn Millionen Menschen. Bevor wir auf der anderen Seite wieder rausgeradelt sind, müssen wir für eine weitere Nacht ein Motel suchen. Die Suche gestaltet sich schwieriger als erwartet. Erst das fünfte Motel gewährt uns Obdach. Die ersten vier weisen uns ab, obwohl sie offensichtlich nicht ausgebucht sind. Die Ansage ist überall deutlich angeschrieben: „No shirt, no shoes, no service!“ Was einst den Hippies galt, soll heute auch andere unliebsame Gäste abhalten. Die Angst vor den Obdachlosen ist riesig und Radreisende sind auf den ersten Blick nicht immer von Obdachlosen zu unterscheiden. Der gleiche Diskurs hallt auch durch die State Parks. Entweder die hiker/biker sites sind doppelt so teuer wie in Nordkalifornien („Warum?“ „Weil die Obdachlosen es ausnutzen.“) oder hiker & biker dürfen nur eine Nacht bleiben („Warum?“ „Weil wir kein billiger Zeltplatz für Obdachlose sind.“) oder es gibt gar keine hiker/biker sites mehr („Warum?“ „Zu viele Obdachlose.“).
Hotels mögen sich als private Unternehmen noch das Recht vorbehalten, ihre Dienstleistung zu verweigern (wie sie es so schön formulieren). Die Zeltplätze in den State Parks sind allerdings öffentlich. Die Idee dieser Parks ist es, die Natur zu schützen und den Menschen (geregelten) Zugang zu gewähren, indem z.B. öffentliche Strandzugänge erhalten bleiben. Wenn ich die Ranger*innen frage, warum die Angst vor den Obdachlosen so groß ist, lautet die erste Antwort immer: “Ich befolge nur die Regeln.” Die zweite Antwort ist: “Die Obdachlosen bringen Gewalt und Kriminalität auf die Zeltplätze.” Aber kann aufgrund einer solch unzulänglichen Pauschalisierung ein signifikanter Teil der Bevölkerung von Orten öffentlicher Erholung ausgeschlossen werden? Und wer definiert überhaupt, wer obdachlos ist? Die (aufgrund von Budgetkürzungen unbezahlten) Freiwilligen am Eingang der State Parks? Viele Menschen in den USA wohnen ohne festen Wohnsitz in ihrem Auto oder Wohnmobil. Solange sie jedoch einen Stellplatz für ihr Fahrzeug bezahlen können, sind sie gern gesehene Gäste. Hier zeigt sich einmal mehr: The car is the king – und wer nicht mal mehr ein Auto besitzt, ist nicht mehr viel wert. Bei Radreisenden stößt dieses Konzept jedoch an seine Grenzen, weil sie (zumindest vorübergehend) freiwillig auf einen motorisierten Untersatz und einen festen Wohnsitz verzichten und trotzdem nicht in die Kategorie “obdachlos” passen.
Ebenfalls stoisch ihre Regeln befolgen die Soldat*innen im Camp Pendleton. Die Pacific Coast Bike Route führt über diesen Marinestützpunkt, da die einzige Alternative eine achtspurige Autobahn ist, auf welcher das Radfahren (aus gutem Grund) normalerweise verboten ist. Um die Militärbasis zu durchqueren, ist ein US-amerikanischer Führerschein erforderlich. Mein internationaler Führerschein wird nicht anerkannt, weil der wachhabende Soldat diesen nicht scannen kann. Dementsprechend müssen gesonderte Formulare ausgefüllt, alle unsere Daten und Fotos (von drei Seiten) aufgenommen, die nächsthöheren Hierarchieebenen eingeschaltet und die Grenzpolizei herbeigeholt werden, nur um uns nach zwei Stunden in der prallen Mittagshitze mitzuteilen, dass Ausländer*innen nicht über den Stützpunkt radeln dürfen. Eskortieren können sie uns leider auch nicht. Es ist offensichtlich, dass den jungen Soldat*innen nicht ganz wohl bei dieser Entscheidung ist, aber sie sind Gefangene ihres eigenen Regelwerks.
Wir sehen die Sinnlosigkeit unseres Unterfangens ein und radeln zügig auf dem Interstate Highway bis zur nächsten Ausfahrt. Kurz vor San Diego haben wir genug von der Küste und biegen in die Berge ab. Wir klettern auf 1.300 Meter und sausen auf der anderen Seite in die Wüste hinab. Unglaublich, wie schnell sich die Landschaft binnen wenigen Kilometern ändert. Die Bergkette schirmt den Regen und Verkehr ab und wir radeln entspannt mit Rückenwind bis an die mexikanische Grenze.
In El Centro, der letzten Stadt vor der Grenze, richten wir uns in einem Golf- und Wohnmobil-Resort ein. Hier überwintern kanadische snowbirds (umgangssprachlich für überwiegend ältere US-Amerikaner*innen oder Kanadier*innen, die den Winter im Süden verbringen). Wir dürfen auf der bewässerten Wiese vor dem Gemeinschaftsraum unser Zelt aufbauen und bekommen so das gesamte Lagerleben aus nächster Nähe mit: Tanzabend, Nähstunde, Eisausgabe, Bingo und Gottesdienst. Über uns kreisen schon die Hubschrauber der Grenzpolizei. Die Angst vor der sogenannten illegalen Einwanderung ist mindestens genauso groß wie die Angst vor den Obdachlosen. Hier warten wir auf unsere Pakete und rüsten uns für die Wüste aus. Wir brauchen einen weiteren Wassersack, Sandheringe und lange Sachen, um uns vor der Sonne zu schützen. Unsere Bärensprays und bärensicheren Essenssäcke haben wir bereits in San Francisco gelassen. Marilyne braucht einen neuen Zahnkranz, Mika bekommt eine letzte Impfung und wir sind startklar für Mexiko!
Nach einem Dreiviertel Jahr in den Vereinigten Staaten und Kanada ist es nun time to say goodbye. Wir freuen uns auf das nächste Kapitel unserer Reise! 🙂
Trop cool les retrouvailles après des kilomètres dans les jambes !
Bisous
immer schön euch zu lesen, und doppel mal so schön am ende die stotze Marla auf seine Fahrrad zu sehen! ich freue mich schon auf das neues Kapitel, gute reise weiterhin und liebe grüsse euch 4!