Die Grenzen in Zentralamerika kommen selten so abrupt daher wie jene zwischen Nicaragua und Costa Rica. Die meisten Länder in der Region gehen eher fließend ineinander über. Sie kündigen sich diesseits der Grenze langsam an und jenseits ist auf den ersten Blick oft gar nicht so genau auszumachen, was denn nun das neue Land charakterisiert und von seinen Nachbarländern unterscheidet. Lediglich Belize bildete hiervon eine Ausnahme und nun Costa Rica.
Costa Rica empfängt uns angenehm leise und unaufdringlich. Auf den ersten Kilometern hinter der Grenze definiert sich das Land vor allem über Dinge, die nicht vorhanden sind. Niemand hupt uns von hinten an wie in Nicaragua; am Straßenrand liegt nicht so viel Müll wie in Honduras und uns überholen keine bunt angemalten Schulbusse, die uns ihre schwarzen Abgaswolken ins Gesicht blasen wie in Guatemala. Die wenigen dieser ausrangierten US-amerikanischen Schulbusse, die uns begegnen, sind seriös einfarbig angestrichen.
Der nicaraguanische Grenzbeamte wollte mit uns noch über die Höhe der Ausreisegebühr verhandeln. Die Gebühr wird in US-Dollar festgesetzt, aber der Wechselkurs unterscheidet sich von einem Beamten zum nächsten. Wie auf dem Markt feilschten wir über die Höhe der öffentlichen Abgabe in der nationalen Währung, die der Beamte anschließend in einem Portemonnaie unter seinem Schreibtisch wechselte. Die Einreise nach Costa Rica ist hingegen unkompliziert. Der costa-ricanische Beamte erhebt keine Einreisegebühr und wir werden auch nicht (wie an anderen zentralamerikanischen Grenzen üblich) von Soldat*innen kontrolliert. Costa Rica hat seine Armee schon vor Langem abgeschafft und gibt seine Steuereinnahmen anscheinend sinnvoller aus. Die Grenze sichert die Polizei. Uns gefällt der Gedanke, dass es auf dieser Welt Länder gibt, die ohne Militär auskommen – noch dazu in Lateinamerika, wo die Armee nicht nur zur Grenzsicherung, sondern oft auch im Innern eingesetzt wird und dort Polizeiaufgaben übernimmt.
Wir sind froh, den trubeligen Grenzübergang an der Panamericana hinter uns zu lassen und tauchen in das neue Land ein. Statt Motorenlärm hören wir Vögel zwitschern und das erste Mal seitdem wir den Dschungel in Guatemala verlassen haben auch wieder Affen brüllen. Bereits an unserem ersten Tag in Costa Rica begegnen wir einem Krokodil, einem Faultier und einem riesigen Leguan in freier Wildbahn.
Am nächsten Morgen fahren wir von der Panamericana auf eine Schotterpiste ab und verfluchen unsere Entscheidung sehr bald. Für die ersten acht Kilometer brauchen wir drei Stunden.
Als ein Gewitter aufzieht, flüchten wir unter das Vordach von Alva und ihrer Familie und werden so unglaublich gastfreundlich empfangen, dass wir die Anstrengung der letzten Stunden fast vergessen. Alva lädt uns auf eine Suppe ein und wir revanchieren uns mit einem Paket Kaffee. Das Abenteuer wartet wie so oft abseits der großen Straßen auf uns, aber es sind diese kleinen und großen Gesten am Wegesrand, die das Abenteuer erst erlebenswert machen.
Nachdem wir in Nicaragua der heißen und trockenen Pazifikküste gefolgt sind, biegen wir in Costa Rica in Richtung Karibik ab. Sobald wir die ersten (hier nicht sehr hohen) Berge hinter uns gelassen haben, ändert sich die Landschaft und das Klima. Es regnet nun fast jeden Tag. Allerdings ist es so schwül, dass es sich oft gar nicht lohnt die Regenjacken rauszuholen.
Mit jeder Stadt, die wir auf dem Weg in die Karibik passieren, nimmt der Verkehr zu. Die Autofahrer*innen respektieren uns bei Weitem mehr als in Nicaragua, aber die costa-ricanischen Straßen sind sehr schmal. Immerhin sind die gefährlichsten Stellen markiert und wir haben auch sonst den Eindruck, dass die Verkehrskultur ein bisschen geordneter und reglementierter ist als im nördlichen Zentralamerika. So müssen zum Beispiel alle Motorradfahrer*innen eine reflektierende Schärpe tragen. Weiter im Norden hatten nicht einmal alle Motorräder Licht.
Es kommt uns also sehr entgegen, die Räder in Chilamate für einen Monat stehen zu lassen und den Rest des Landes im Auto zu erkunden. Gemeinsam mit unseren Groß-Eltern raften wir Flüsse hinunter, wandern an Vulkanen vorbei und pirschen durch den Regenwald.
Die tierische Vielfalt Costa Ricas überwältigt uns. Seit dem Maya-Regenwald auf Yucatán und in Guatemala haben wir nicht mehr so viele Tiere gesehen.
¡Pura vida! Wir haben sogar das Glück, einen Quetzal zu beobachten. Dieser grün-rote Vogel mit seiner bis zu einem Meter langen Schwanzfeder ist zwar das Nationaltier Guatemalas, aber dort vom Aussterben bedroht, sodass wir bislang noch nie einen gesehen haben.
¡Pura vida! (pures Leben) ist weitaus mehr als nur eine Floskel der costa-ricanischen Tourismusbranche. Wir hören diesen Ausdruck täglich – als Antwort auf die Frage „Wie geht es Dir?“ ¡Pura vida! (sehr gut) oder auch auf ein Dankeschön ¡Pura vida! (gern geschehen). Für uns bedeutet pures Leben, dass wir das erste Mal seit zehn Monaten in Lateinamerika wieder das Wasser aus der Leitung trinken können.
Laut Climate Action Tracker ist Costa Rica eines von sieben Ländern weltweit, welche ausreichende Maßnahmen ergreifen, um das Ziel von maximal zwei Grad Erderwärmung gegenüber der vorindustriellen Zeit zu erreichen. Wahnsinn: Ab 2021 soll der Strom komplett aus erneuerbaren Energien gewonnen werden. Das wäre doch mal ein Ziel für die Energiewende in Deutschland! Natürlich ist Costa Rica mit seinen fünf Millionen Einwohner*innen nicht ganz so groß wie Deutschland und Wasserkraft auch nicht die umweltfreundlichste Variante der Stromerzeugung. Außerdem bedeutet eine grüne Stromversorgung noch lange nicht, dass Costa Rica keine fossilen Brennstoffe mehr braucht. Vor allem der Transportsektor konsumiert nach wie vor Unmengen an Erdöl. Auch in Costa Rica sind die Folgen der Umweltzerstörung bereits deutlich zu sehen. An der Pazifikküste schnorcheln wir an einem Riff mit völlig ausgeblichenen Korallen, welche besonders sensibel auf die Erwärmung der Meere reagieren. Aber der Anfang ist gemacht.
Costa Rica ist im Vergleich zu seinen nördlichen Nachbarländern sehr touristisch. Wir begegnen wesentlich mehr Tourist*innen und auch einem anderen Klientel. Der sogenannte Ökotourismus ist auf ältere und zahlungskräftige Menschen ausgerichtet. Die Touren werden mitunter ausschließlich auf Englisch angeboten. Oft müssen auch Kleinkinder bereits zahlen, was Costa Rica für uns zu einem sehr teuren Reiseland werden lässt.
Auch in Unterkünften müssen wir nun ab und an über den Preis für die Kinder verhandeln. Im nördlichen Zentralamerika und in Mexiko haben sie in der Regel nichts bezahlt, solange sie ins Zimmer passten. In Costa Rica verweigert uns das erste Mal auf dieser Reise ein kinderfreies Hostel den Check-In. Ich habe nichts gegen kinderfreie Orte, sondern weiß diese im Gegenteil durchaus sehr zu schätzen. Es zeigt uns aber, dass Kinder in Costa Rica nicht mehr so selbstverständlich überall mit hingenommen werden, wie es weiter im Norden (zumindest bis zum Río Grande) der Fall ist.
Nach der langen Radelpause wird es nun Zeit, das Weihnachtsessen wieder von unseren Hüften zu strampeln. Da der Verkehr auf der Nationalstraße 4 nicht besser wird, biegen wir in Puerto Viejo de Sarapiquí erneut auf Schotterpisten ab. Auch wenn die Route diesmal flach bleibt, ist sie nicht weniger abenteuerlich.
Die Bananenplantagen in Zentralamerika umgibt ein Mythos. Auch in Costa Rica warnen uns die Einheimischen, dass auf diesen Farmen merkwürdige Dinge passieren würden. Die Erzählungen, die um die Plantagen ranken, sind unweigerlich mit der unrühmlichen Geschichte der United Fruit Company verbunden. Von Costa Rica ausgehend dehnte das US-amerikanische Unternehmen sein Bananenimperium auf ganz Zentralamerika (und die tropischen Regionen Südamerikas) aus. Die wirtschaftliche Macht erlaubte es der United Fruit Company enormen Einfluss auf die Politik in den zentralamerikanischen Ländern auszuüben. Um seine Geschäftsinteressen durchzusetzen, konnte sich das Unternehmen dabei stets auf die tatkräftige Unterstützung des US-amerikanischen Militärs verlassen. Mehrere Staatsstreiche gehen auf das Konto dieser wirtschaftlich-militärischen Invasion. Die unheilvolle Verbindung von Wirtschaft und Politik schuf den Nährboden für Korruption und damit die sogenannten Bananenrepubliken. Heute firmiert die United Fruit Company unter dem Namen Chiquita und die Standard Fruit Company (gleiche Geschichte in grün) nennt sich Dole – zwei auch in Deutschland sehr bekannte Bananenmarken.
Auch heute noch leben viele Plantagenarbeiter*innen in einem Abhängigkeitsverhältnis. In Guatemala haben wir gesehen, wie sie gemeinsam mit ihren Familien in Dörfern innerhalb der Plantagen wohnen. Die Unternehmen übernehmen staatliche Aufgaben und errichten in diesen Wohnsiedlungen Schulen, Sportplätze und Gesundheitszentren, damit die Arbeiter*innen den abgeriegelten Mikrokosmos nicht verlassen müssen und ihre Arbeitskraft uneingeschränkt zur Verfügung steht. Aus Angst, dass wir Fotos schießen würden, durften wir durch die guatemaltekische Plantage nicht radeln, sondern mussten mit dem Bus fahren. Am Eingangstor wurde der Busfahrer vom Sicherheitspersonal ausdrücklich angewiesen, uns erst am Ausgangstor wieder aussteigen zu lassen.
Wir erleben die Menschen im ländlichen Umfeld der Plantagen als sehr herzlich und äußerst gastfreundlich. Als wir in einem der Dörfer nach einem Ort zum Zelten fragen, schließt uns Carlos kurzerhand den Gemeindesaal auf. Es dauert nicht lange, bis sich die ersten Nachbar*innen zu uns gesellen.
Als wir am nächsten Tag nach einem Picknickplatz Ausschau halten, gabeln uns Miguel & Rosi am Wegesrand auf und nehmen uns mit zu sich nach Hause.
Auf Nebenstraßen erreichen wir die Karibik. Die letzten Kilometer legen wir mit einem kleinen Boot zurück, weil der Tortugero-Nationalpark nur auf dem Wasserweg angesteuert werden kann. Im Schutze des Parks legen Schildkröten ihre Eier am Strand ab und in den dahinter liegenden Kanälen und Feuchtgebieten tümmeln sich Kaimane und Krokodile. Wir leihen uns ein Kanu aus, um den Nationalpark zu erkunden.
Gemächlich radeln wir die letzten Kilometer bis zur Grenze nach Panama. Die costa rica lädt zum Verweilen ein. Edelmetalle gibt es entgegen Kolumbus’ Vermutung an der reichen Küste Gott sei Dank nicht so viele. Das dürfte auch ein Grund dafür sein, dass es Costa Rica heute wesentlich besser geht als vielen anderen Ländern in Lateinamerika. Dafür finden wir unter den Palmen Ruhe und Erholung.