El río Magdalena – Entre Macondo y el petróleo

Wir lassen die trubeligen Gassen und den hektischen Verkehr Cartagenas hinter uns und tauchen in das kolumbianische Landleben ein. Nach zwei Tagen im Sattel erreichen wir die beschauliche Kleinstadt Calamar am Ufer des Río Magdalena. Das Leben auf dem Lande folgt langsameren Rhythmen. Die Uhren ticken hier anders – wenn sie denn überhaupt ticken.

Fahrradtaxis auf dem Heimweg: Es ist Feierabend am Malecón von Calamar.

Der Río Magdalena ist hier kurz vor seiner Mündung in die Karibik zu einem gewaltigen, mehrere hundert Meter breiten Strom herangewachsen. Anderthalbtausend Kilometer werden wir dem Fluss fast bis zu seiner Quelle in den Anden folgen. Um dem Verkehr auf den Hauptstraßen und der sengenden Hitze in der Küstentiefebene zu entkommen, wollen wir einen Teil der Strecke auf dem Wasser zurücklegen. Theoretisch ist der Magdalenenstrom bis nach Honda schiffbar. Doch der Schiffsverkehr hält sich in Grenzen. Die Wasserstraße, die früher einmal die Lebensader für die unzähligen Dörfer und Städte am Ufer bildete, wird heute vor allem von Tankern genutzt, die Erdöl aus Barrancabermeja zum Karibikhafen Barranquilla bringen. Die chalupas, kleine Motorboote, die früher als öffentlicher Personennahverkehr den ganzen Weg von der Mündung bis nach Honda bedienten, fahren heute nur noch Teilstrecken zu Dörfern, in die entweder keine Straße führt oder die Piste sehr viel langsamer als der Flussweg ist.

Mit jeder Straße und jeder Brücke, die gebaut wird, verlieren die Flusshäfen an Bedeutung. Auch Calamar hat seine besten Tage hinter sich.
Hafen von Calamar

In Calamar setzen wir ans andere Ufer über und dort unsere Reise auf Schotterpisten fort. Auf dem Schotter sind wir zwar wesentlich langsamer, aber dafür fast ohne Autos unterwegs.

Wir entladen das Boot in Real del Obispo.
Da die Wege dem Uferverlauf folgen, sind sie überwiegend flach.
In den Dörfern versammeln sich oft Menschentrauben um uns herum.
Da wir die ersten Reisenden sind, die Esilda je in ihrem Dorf gesehen hat, bittet sie uns um ein Erinnerungsfoto.
Marla & Mika finden überall schnell neue Spielkamerad*innen.

Nach einer weiteren Tagesetappe endet die Piste an einer Brücke, über die auf einer asphaltierten Straße LKWs an uns vorbeirauschen. Nachdem wir eine Weile ratlos an der Kreuzung gestanden und den Verkehr beobachtet haben, kommen wir mit einem Einheimischen ins Gespräch. Er erzählt uns von einem nahegelegenen Hafen, wo einmal am Tag ein großes Kanu ablegt und die Dörfer flussaufwärts ansteuert. Diese Chance wollen wir uns nicht entgehen lassen und radeln zur Anlegestelle.

Die Anlegestelle ist nicht mehr als ein sandiges Stück Ufer mit einem improvisierten Essensstand …
… aber tatsächlich wartet hier ein Boot und nimmt uns (und gefühlt das halbe Dorf) mit nach Barbú. Der Fahrschein kostet 6.000 Pesos (umgerechnet rund 1,70 Euro) pro Erwachsenen. Kinder und Fahrräder werden kostenlos transportiert.
Unterwegs halten wir an Bauernhöfen und kleinen Siedlungen, wo weitere Leute ein- und aussteigen. Der Außenbordmotor des Kanus hat gegen die starke Strömung sehr zu kämpfen. Für die fünfundzwanzig Kilometer lange Fahrt brauchen wir zwei Stunden.
Um das Dorf zu erreichen, müssen wir noch durch einen ausgetrockneten Arm des Río Magdalena schieben.

Barbú ist eines dieser Dörfer, welches noch auf den Fluss angewiesen ist, weil es keine Straße gibt. Wir werden das Dorf auf einem schmalen Feldweg verlassen, den lediglich Fußgänger*innen, Esel und Motorräder nutzen. So ist es auch nicht verwunderlich, dass sich hierhin keine Tourist*innen verirren. Entsprechend groß ist die Neugierde der Bewohner*innen.

Zuerst nähern sich immer die Kinder. Nach einer Weile gesellen sich dann die Erwachsenen hinzu.
Wir werden sehr gastfreundlich empfangen und dürfen unser Moskitozelt in der Kirche aufschlagen. Es ist so heiß hier, dass es selbst in der Kirche Ventilatoren gibt.

Ein Nachbar bietet uns einen Eimer Wasser zum Duschen an, den wir dankbar annehmen. Wasser ist bei dieser Hitze sehr kostbar. Auf dem Weg hierher sind wir durch Dörfer geradelt, in denen lediglich alle zwei Wochen Wasser aus der Leitung fließt. Die Anwohner*innen füllen dann große Tanks auf ihren Dächern und müssen die restliche Zeit sehr sparsam mit dem Wasser umgehen. In den Dörfern am Ufer des Magdalenenstroms wird das Wasser oft direkt aus dem Fluss gepumpt. Somit fließt zwar kein Trinkwasser aus der Leitung, aber zum Duschen und Wäschewaschen reicht es allemal. Außerdem ist Wasser, welches zwei Wochen in einem Tank lagert, der selten gereinigt wird, auch kein Trinkwasser mehr. Auch wenn das Leitungswasser in den meisten Regionen Kolumbiens offiziell als trinkbar einstuft wird, kochen viele Einheimische das Wasser ab oder kaufen ihr Trinkwasser in sechs Liter großen Plastiktüten.

Alternativ benutzen viele Menschen in Kolumbien (wie auch in Mexiko und Zentralamerika) diese mit neunzehn Litern befüllten, wiederverwendbaren Kanister. Sie sind günstiger und produzieren weniger Müll.
Die Felder in der Küstenregion sind vertrocknet. Die Landwirt*innen warten auf den Regen, der im April kommen soll.
Das Hinterland abseits der großen Küstenstädte Cartagena, Barranquilla und Santa Marta ist eine sehr arme Region. Die wenigsten Menschen verfügen hier über eigenes Land, um sich zu ernähren. Die Ländereien gehören Großgrundbesitzer*innen, die diese an die Feldarbeiter*innen verleihen, wenn sie sie nicht selbst mit Monokulturen bewirtschaften. Die Menschen verdienen hier mitunter weniger als der gesetzliche Mindestlohn, der in Kolumbien bei gut 800.000 Pesos (umgerechnet ca. 230 Euro) liegt.
Wir verlassen Barbú auf einem Trampelpfad.
Neugierige Blicke am Wegesrand
Die Landschaft wird immer wüstenähnlicher, sodass wir uns für einen kurzen Moment in Baja California (Mexiko) wähnen.

Wir passieren noch einige Dörfer, in denen die Zeit stehengeblieben zu sein scheint. Irgendwo hier muss Macondo liegen, das Dorf, in dem „Hundert Jahre Einsamkeit“ von García Márquez spielt. Auch Mompós ist so ein verlorener Ort und wird oft mit dem Klassiker des magischen Realismus in Verbindung gebracht. Die Stadt liegt an einem Seitenarm des Magdalenenstroms und ist, seitdem der Schiffsverkehr nur noch über den Hauptarm läuft, zum Nebenschauspielplatz geworden. Mompós ist wesentlich bekannter als die umliegenden Orte und verfügt über eine touristische Infrastruktur. Doch von den Tourist*innen fehlt jede Spur.

Zu Ostern soll in Mompós Hochsaison sein. Zwei Wochen vorher ist davon aber noch nichts zu spüren. Selbst wenn sich der Ort einmal im Jahr zur Osterwoche mit Tourist*innen füllen sollte, ist mir schleierhaft, wie die ganzen Hotels und Juwelier*innen den Rest des Jahres überleben.
Mompós hat sich neben dem Tourismus dem Silber- und Goldschmiedehandwerk verschrieben. Bislang bin ich an Silber- und Goldschmuck stets vorbeigelaufen, ohne diesem besondere Beachtung zu schenken. Es war jedoch sehr spannend im Rahmen einer Führung zu sehen, wieviel Handarbeit in der Produktion steckt.

Wir lassen uns von der Einsamkeit nicht stören, sondern passen uns vielmehr dem gemütlichen Rhythmus an und ruhen uns ein paar Tage vom Gerüttel auf den Schotterpisten aus, während wir auf die Happy Family warten. Der unaufgeregte Ort entpuppt sich als ein idealer Treffpunkt. Während wir bereits gut erholt sind, muss die italienische Familie erst einmal einen Gang runterschalten. Um Mompós einen Tag früher als geplant zu erreichen, haben sie unseren Tagesstreckenrekord von 104 Kilometern um einen Kilometer überboten. Helm ab!

Freudige Ankunft zu später Stunde in Mompós
Velomerica meets Happy Family

Normalerweise ist die Happy Family aber bei Weitem langsamer unterwegs. Sie sind vor drei Jahren in Ushuaia an der südlichen Spitze des Kontinents gestartet und uns entgegen geradelt. Hier in Kolumbien treffen wir uns auf halbem Wege zwischen Alaska und Feuerland. Der Vater Seba lenkt ein Eltern-Kind-Tandem, wie wir es schon bei der VeLoveFamily in Nicaragua ausprobieren durften. Seine Töchter Anna und Angela unterstützen ihn dabei (mehr oder weniger) fleißig. Die elfjährige Angela strampelt vorne auf dem Tandem, während die neunjährige Anna hinten in einem Anhänger in die Pedale tritt.

Familientreffen

Wir sind mit zwei kleinen Kindern schon sehr schwer beladen, aber ab heute werde ich bei jeder Steigung in den Anden an die Happy Family denken, die mit ihrem Gespann fast einhundert Kilo mehr auf die Waage bringt. Die Mutter Alby transportiert auf ihrem Rad das Gepäck der Familie – wie Marilyne. Radreisende Mütter sind die stärksten der Welt!

Radmütter beim Erfahrungsaustausch
Die Kinder lernen derweil die Fahnen Europas anhand eines selbstgebastelten Memoryspiels kennen …
… und reparieren unsere Fahrräder.
Sind noch alle Speichen da?

Wir verstehen uns auf Anhieb und haben uns unglaublich viel zu erzählen. Die Happy Family radelt mit einer ähnlichen Philosophie durch Amerika. Doch ihre Energie ist inspirierend. Sie haben ihr Projekt BIOcycling America getauft und halten unterwegs auf Farmen, die Lebensmittel aus kontrolliert biologischem Anbau produzieren. Ihre Töchter unterrichten sie beim Radreisen. Anna und Angela haben klassische Schulmaterialien im Gepäck. Sie lernen jedoch auch viel in den Projekten, die sie besuchen, von den Menschen, denen sie begegnen und im Radelalltag auf der Straße. Roadschooling ist ein Konzept, dass uns perspektivisch auch sehr reizen würde. Bislang haben wir gedacht, dass wir sesshaft werden müssen, wenn die Schulpflicht ruft. Die radreisenden Familien mit älteren Kindern haben uns jedoch gezeigt, dass das (Nomaden-)leben nicht vorbei sein muss.

Die Happy Family ist sehr aktiv in den sozialen Medien unterwegs und motiviert uns einen Live-Video-Chat zu veranstalten. Eine Stunde lang beantworten wir Fragen rund um das Thema radreisende Familien. Es ist gar nicht so einfach fünf Sprachen (deutsch, englisch, französisch, italienisch und spanisch) unter einen Hut zu bringen. 😉

Voll frischer Energie setzen wir uns Reise flussaufwärts fort, während die Happy Family in Richtung Karibikküste radelt. Bis El Banco folgen wir ruhigen Nebenstraßen. Am Flusshafen angekommen satteln wir auf eine chalupa um, da die Fernverkehrsstraße Ruta del Sol neben vielen LKWs, jede Menge Hitze und wenig landschaftliche Reize verspricht.

Auf dem Weg nach El Banco: Der Schweiß brennt in den Augen und mittags dröhnt der ganze Schädel.
Es ist so heiß hier, dass sogar die Gummibärchen schmelzen.
Hafen von El Banco
Der frische Fahrtwind tut uns gut: Chalupa ahoi! 🙂
Unterwegs legen wir immer mal wieder in kleinen Dörfern an.
Mit bis zu siebzig Stundenkilometern sausen die chalupas über den Fluss und transportieren von Hühnern bis zu Fahrrädern alles, was sich aufs Dach schnallen lässt.
Auch die Milch wird mit dem Boot in die Stadt gebracht.
Trotzdem der Río Magdalena relativ breit ist, ist es gar nicht so einfach auf dem Fluss zu navigieren. Die „chalupas“ müssen sehr viel Treibholz und flachen Stellen ausweichen, um nicht anzuecken oder aufzusetzen. Ein Motorschaden verzögert unsere Weiterfahrt um zwei Stunden. Insgesamt sind wir über zehn Stunden unterwegs, sparen jedoch dafür vierhundert Kilometer auf der Fernverkehrsstraße ein.
Ölsilos in Barrancabermeja
Überall werden neue Brücken gebaut, sodass der Bootsverkehr auch zwischen El Banco, Barrancabermeja und Puerto Berrío irgendwann eingestellt werden wird.

In Puerto Berrío gehen wir wieder an Land und folgen noch zwei Tage der Sonnenroute – ein schön klingender Name für eine langweilige Autobahn. Bis Honda prägen Bananen und Zuckerrohr die Landschaft. Unterbrochen werden die großflächigen Plantagen lediglich von den Ölfördertürmen. Unsere Route führt uns bislang nicht an den landschaftlichen Attraktionen Kolumbiens vorbei.

Ölfördertürme am Straßenrand
Immerhin ist die „Ruta del Sol“ überwiegend flach, sodass wir zügig vorankommen. Streckenweise haben wir sogar zwei Fahrspuren für uns alleine. Die Autobahn soll seit Jahren vierspurig ausgebaut werden, aber die Gelder versickern oft irgendwo im Sumpf der Bürokratie.

Kolumbien hat von der Küste über den Regenwald bis zu den Bergen sehr viel zu bieten. Doch auf Radreisen gilt es immer einen Kompromiss auf der Suche nach der besten Route zu finden. Strände haben wir in Zentralamerika gesehen und die Berge heben wir uns für Ecuador und Peru auf. Dafür bekommen wir einen Einblick in die Realität der Kolumbianer*innen abseits der touristischen Orte. Es sind die Begegnungen mit den Menschen, die den Reiz dieser Strecke ausmachen.

Unsere Übernachtung bei Ilmer & Nancy ist eine willkommene Abwechslung zum alltäglichen Schwitzen auf der Sonnenroute. Danke Euch! 🙂

In Honda treffen wir den Historiker Tiberio Murcia, der auf den Spuren von Alexander von Humboldt wandelt. An den Stromschnellen von Honda endete traditionell die Flussreise. Zu Humboldts Zeiten sind die Menschen von hieraus auf dem Landweg in die Hauptstadt Bogotá gereist.

Seitdem die Waren nicht mehr auf dem Fluss transportiert werden, wird die Hafenstadt ihrer historischen Bedeutung jedoch nicht mehr gerecht. Heute biegen die meisten Reisenden sogar schon vor Honda nach Bogotá ab, was uns aber nur recht sein soll. Wir bleiben unten im Flusstal und gleiten auf einer frisch asphaltierten Straße völlig ohne motorisierte Konkurrenz dahin. Das Tal ist hier deutlich schmaler und die ersten Berge kommen in Sicht. In der Ferne können wir sogar einen schneebedeckten Andengipfel ausmachen.

Auf der leeren Straße zwischen Honda und Girardot wird das Radfahren wieder zum Vergnügen.
Diesem Verkehrszeichen sind wir in Kolumbien sehr oft begegnet und haben lange gebraucht, um seine Bedeutung herauszufinden. Vielen Kolumbianer*innen scheint es ähnlich zu gehen. Das Schild bittet alle Verkehrsteilnehmer*innen auch tagsüber mit Licht zu fahren. Wir werden jedoch sehr oft darauf hingewiesen, dass wir vergessen hätten, unser Licht auszuschalten. 😉
Wir kommen sogar einmal in den Genuss eines Radweges – eine Rarität in Lateinamerika. Außerdem setzt endlich der versprochene Regen ein, sodass wir, um von der Abkühlung zu profitieren, unseren Ruhetag immer wieder hinausschieben. Von Mompós radeln wir in einem Rutsch binnen zwei Wochen bis zur Tatacoa-Wüste.

Doch das Vergnügen währt nur kurz. Hinter Girardot kehrt der Verkehr aus Bogotá zurück und wir kämpfen wieder mit den LKWs. Um der Fernverkehrsstraße zu entkommen, setzen wir in Aipe ein letztes Mal über den Río Magdalena über und machen einen Abstecher in die Tatacoa-Wüste.

Wir sind froh, den Verkehr hinter uns zu lassen und auf der anderen Flussseite in die Stille der Wüste einzutauchen.
Pünktlich zu Ostern sind wir wieder in der Wüste. Letztes Jahr um diese Zeit waren wir auf der mexikanischen Halbinsel Baja California unterwegs. Am Ostersonntag sind in der Tatacoa-Wüste noch viele Einheimische zu Besuch, doch schon am nächsten Tag haben wir die Landschaft fast für uns allein.
Im Regenschatten der Berge ist hier eine Miniwüste entstanden.
Ein Kletterparadies für die Kinder
… und Bäume

Auf dem Weg in die Tatacoa-Wüste haben wir José Luis kennengelernt, als er mit seinem Auto am Wegesrand hielt und uns zur Erfrischung kalte Getränke anbot. Jetzt kommen wir seiner Einladung nach und machen uns auf den Weg nach Neiva.

José Luis vermittelt uns einen Kontakt zum Fernsehsender RCN, der einen kurzen Film über uns dreht und in den Abendnachrichten ausstrahlt. Der Clip wird uns zu ähnlicher Berühmtheit verhelfen, wie das Facebook-Video des mexikanischen LKW-Fahrers Enrique und seiner Frau Rocío. In den kommenden Tagen werden wir immer wieder auf der Straße angesprochen, ob wir nicht die Familie aus dem Fernsehen seien. 😉

Velomerica in den kolumbianischen Abendnachrichten

Vieles in Kolumbien erinnert uns an Mexiko: Die zahlreichen Radsportler*innen auf den Straßen und die Autofahrer*innen, die uns mit ihren Hupen grüßen. Die Hilfsbereitschaft und Gastfreundschaft der Kolumbianer*innen, die uns in der prallen Mittagssonne Wasser schenken, uns selbst im kleinsten Dorf ein Nachtlager gewähren …

… oder uns mit dem Motorrad zum nächsten Radladen fahren, um ein gerissenes Schaltkabel zu ersetzen.

Auch die Kolumbianer*innen sind sehr kommunikative Menschen und stets für ein Gespräch samt Selfie zu haben. Mexiko und Kolumbien sind die Länder auf unserer Reise, in denen mit Abstand die meistens Fotos von uns geschossen wurden und mediale Aufmerksamtkeit in den sozialen Netzwerken, Presse und Fernsehen am größten war.

Gruppenfoto mit Radsportler*innen

Mexiko und Kolumbien sind auch die lautesten Länder, die wir auf unserem Weg von Alaska gen Süden bereist haben. Ständig läuft irgendwo Musik. In Kolumbien wird uns ein Dorf in Erinnerung bleiben, wo es auf jeder Straßenseite eine Bar gab, die sich in einem unregulierten Lautstärkewettbewerb befanden und wir mit Ohrenschmerzen zwischen ihnen hindurchradeln mussten. Doch meistens freuen wir uns über die Musik. 🙂

Ebenfalls sehr wichtig ist den Kolumbianer*innen, wie wir als Ausländer*innen ihr Land wahrnehmen. Der Grundtenor ist dabei ähnlich wie in Mexiko: „Kolumbien ist doch nicht wirklich so, wie Ihr es aus den Nachrichten kennt, oder?“ Die Nachrichten über beide Länder sind von Drogen und Gewalt geprägt. Wohingegen wir die Angst der Mexikaner*innen sehr deutlich zu spüren bekamen, erleben wir die Kolumbianer*innen (zumindest diejenigen, die wir in der Küstenregion und entlang des Magdalenenstroms kennenlernen) in dieser Hinsicht entspannter. Wenn wir mit den Einheimischen sprechen, sind der Bürgerkrieg und die Drogengewalt auf Nachfrage durchaus ein Thema, welches aber bei Weitem nicht so vordergründig präsent ist wie in Mexiko. Sie verkennen die Gewalt nicht, was bei der medialen Berichterstattung auch nur schwer möglich wäre, aber der kolumbianische Alltag kommt uns weniger angstbestimmt als der mexikanische vor. Manchmal spüren wir, dass sich zu der Unkenntnis über bestimmte Regionen des eigenen Landes eine difuse Angst mischt. Wenn wir beispielsweise von unseren Plänen erzählen, Kolumbien über das Amazonasgebiet verlassen zu wollen, werden wir oft verständnislos angeguckt, da der einzig bekannte Grenzübergang nach Ecuador in den Anden liegt und die restliche Grenze als Drogenanbau- und Guerillagebiet gilt. Insgesamt bekommen wir aber eher den Eindruck, dass Mexiko heute dort steht, wo sich Kolumbien vielleicht vor zehn oder zwanzig Jahren befand.

Der Videoclip über uns unterbricht für einen kurzen Moment die Nachrichten über Drogen, Gewalt und kriminelle venezolanische Geflüchtete in Kolumbien. Letzteres wird von den Fernsehsendern zu einem riesigen Thema aufgebauscht, womit sie Kohlen ins Feuer werfen und den Rassismus anheizen – ein Gedanke, der in einem nächsten Artikel mehr Platz braucht. Unsere Reise mag in diesem Kontext sicherlich vielen verrückt vorkommen, aber wir merken auch immer wieder, wie sie die eine oder den anderen zum Träumen anregt.

Was uns jedoch gar nicht an Mexiko erinnert, ist die ständige Frage, was denn unsere Fahrräder kosten würden. Es ist nicht das erste Mal auf dieser Reise, dass wir danach gefragt werden, aber in keinem anderen Land, wurde uns diese Frage so häufig und so prompt gestellt wie in Kolumbien. Grundsätzlich halte ich sie für sehr berechtigt und versuche auch auf das durchaus delikate Thema der gravierenden Lohnunterschiede zwischen Europa und Lateinamerika einzugehen und zu erklären, wie wir unsere Reise finanzieren. Aber wenn die zweite Frage nach „Woher kommt hier?“ direkt „Was kostet Dein Zelt?“ lautet, stößt sie mir unangenehm auf. Plata, plata, plata scheint vor allem an der Küste ein Thema zu sein. Nicht umsonst existiert das kolombianische Sprichwort no dar papaya (wörtlich: „keine Papaya geben“), was im übertragenen Sinne u.a. bedeutet, Deinen Besitztum nicht zur Schau zu stellen und Dich keinen unsinnigen Risiken auszusetzen.

Es ist gar nicht so einfach beim Radreisen „keine Papaya zu geben“, da unser ganzer Besitz offensichtlich in zwölf Radtaschen verstaut ist.

An der Küste werden wir außerdem oft um ein Trinkgeld gebeten. Auch das halte ich grundsätzlich nicht für verwerflich. Die Art und Weise jedoch, erst nach erbrachter Hilfeleistung nach ein paar Pesos „für den Reis“ zu fragen, macht es unglaublich schwierig, unentgeltliche von bezahlten Hilfeangeboten zu unterscheiden. Das führt leider dazu, dass wir oft jegliche Hilfe ablehnen, um uns nicht in die mühselige Trinkgelddiskussion zu verstricken. Das passiert uns vor allem dort, wo wir als Tourist*innen und nicht als Reisende wahrgenommen werden (z.B. auf den Bootsfahrten). Je weiter wir ins Landesinnere vorstoßen, desto seltener spielt das Geldthema eine Rolle.

Dafür müssen wir in Kolumbien nie den Preis auf den Märkten oder für die Mangos am Straßenrand verhandeln. Es gibt hier keine verschiedenen Preise für Einheimische und Ausländer*innen wie es beispielsweise in einigen Ländern Zentralamerikas üblich ist.

Was wir in Kolumbien auch als störend empfinden, ist, dass wir in Hotels sehr oft am frühen Morgen geweckt werden. Wer unsere Familie kennt, weiß, dass wir alle vier keine Frühaufsteher*innen sind. 😉 Unsere Route durch Kolumbien ist leider nicht so einfach mit dem Zelt zu bereisen, sodass wir öfter als in anderen Ländern auf feste Unterkünfte angewiesen sind. Ich kann mich nicht erinnern, dass in Mexiko jemals jemand lautstark um sechs Uhr morgens an unsere Tür geklopft hätte, was uns in Kolumbien nicht nur einmal passiert ist – und das in Hotels, wo wir dafür bezahlen, unsere Ruhe haben zu dürfen. Im Gegensatz dazu haben wir Mexiko als ein Land erlebt, in dem die Privatsphäre der Reisenden sehr respektiert wird. Immerhin werden wir dafür in Kolumbien bereits am frühen Morgen mit einem frisch gebrühten Kaffee begrüßt. Kolumbien ist das erste Land auf unserer Reise mit einer richtigen Kaffeekultur. Auch in Mexiko und Zentralamerika wird Kaffee angebaut. Doch die Mexikaner*innen und Zentralamerikaner*innen trinken lieber Nescafé – sprich in den globalen Norden exportierte Kaffeebohnen, die als löslicher Kaffee zurück in den Süden kommen.

In Kolumbien bekommen auch die Kinder ganz selbstverständlich Kaffee serviert. Da verkraften wir es schon besser, auch mal früh aufzustehen. 😉

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