Wir werden unterwegs immer wieder gefragt, wie das denn sei, mit zwei kleinen Kindern auf Fahrrädern zu reisen. Auf diese Frage haben wir eine einfache Antwort parat: Mitunter kann es ganz schön anstrengend sein, aber – Eltern kleiner Kinder wissen, was ich meine 😉 – es ist auch nicht anstrengender als zu Hause. Im Gegenteil: Manche Dinge sind sogar einfacher. Das Chaos, welches normalerweise im ganzen Kinderzimmer herrscht, beschränkt sich auf den Anhänger. In der freien Natur können wir die Kinder auch einfach mal toben und schreien lassen, was durchaus nützlich sein kann, um die Bären zu warnen. Das Geschrei ist allerdings eher kontraproduktiv, um Tiere zu beobachten und die Zeltwände sind – auch wenn sie es gern suggerieren – nicht schallisoliert. Wir müssen also stets aufpassen, dass die Kinder neben den Tieren nicht auch noch unsere Zeltnachbar*innen verscheuchen.
Zelten ist eine durchaus kindgerechte Wohnform, weil sich das Lagerleben auf Kinderaugenhöhe abspielt. Unser Tisch ist eine Picknickdecke. Die Natur ist ein großartiger Spielplatz mit (fast) unbegrenzten Möglichkeiten, sodass selten Langeweile aufkommt. Aus Stöcken werden Löffel, Steine werden zu Tortillas und statt Zucker wird Sand auf den Eierkuchen gestreut. Nichts desto trotz freuen sich Marla und Mika riesig, wenn wir eine Mittagspause an einem „richtigen“ Spielplatz einlegen oder wir bei anderen Kindern zu Besuch sind und es neue Spielzeuge auszuprobieren gilt.
Da der Stauraum auf dem Fahrrad begrenzt ist und sich am Berg jedes Kilo bemerkbar macht, haben wir eine einfache Regel aufgestellt: Alle Spielsachen müssen in die Kinderrucksäcke passen. Die Rucksäcke bieten Platz für eine kleine Bibliothek, Fotos, Papier, Stifte, Kuscheltiere und sogar einen Ball. Wenn sich unterwegs zu viele Steine, Muscheln und Kienäpfel ansammeln, wird aussortiert. Die Menge an Spielzeugen hat sich als völlig ausreichend herausgestellt.
„Do you want the beba?“
„Yeah!“
Kindliche Neugierde und das Bedürfnis überall dabei sein zu wollen, lässt Kinder (viel schneller als Erwachsene) Sprachbarrieren überwinden. Durch den spielerischen Zugang saugen sie neue Sprachen auf wie Schwämme. Nach einem Dreivierteljahr in den USA und Kanada spricht Marla mit Mika englisches Kauderwelsch. Es dauert eine ganze Weile bis ich herausfinde, dass es sich bei beba um eine Steckschließe im Anhänger handelt. Mittlerweile weiß ich auch, dass der Anhänger so schwer ist, weil ich neben Marla und Mika auch Wia (Marlas imaginäre Spielkameradin) hinter mir herziehe. Dafür ist der Grüffelo in Kalifornien auf der Autobahn ausgestiegen und zurück nach Alaska gefahren.
Kleine Kinder sind (im Gegensatz zu uns Großen) unglaublich kreativ und flexibel. Sie beschweren sich nicht über den Regen, sondern spielen in den Pfützen. Als wir eines Morgens in einem Sandsturm in der Wüste aufwachen, der alle Heringe aus dem Boden reißt und unser Zeltgestänge verbiegt, kommentieren sie lediglich laut lachend, dass es heute aber besonders windig sei. Während ich draußen versuche, den Schaden zu begrenzen, ziehen sie sich in ihren Anhänger zurück und beobachten das Treiben. Kinder brauchen Rückzugsorte, an denen sie sich geborgen fühlen. Der Anhänger und das Zelt sind für Marla und Mika zu ihrem Zuhause geworden. Während sich die Landschaft und die Leute um sie herum täglich ändern, reist ihr Zuhause mit ihnen mit.
Kinder bringen Freude an Orte, an denen uns gar nicht zum Lachen zumute ist. Als wir die Grenze nach Mexiko überqueren und kurz vor Sonnenuntergang an zerfallenen Häusern und Müllkippen vorbei durch die Seitenstraßen Mexicalis radeln, singt Marla fröhlich auf ihrem Fahrrad. Wie der (deutsche oder französische) Reisepass Grenzen öffnet, öffnen die Kinder Türen, die uns sonst womöglich verschlossen bleiben würden. Die Vereinigten Staaten von Amerika sind ein sehr kinderfreundliches Land. Die einzige Tür, die uns verschlossen bleibt, führt ins Casino. So sind wir des Öfteren von der Straße weg zum Übernachten eingeladen worden. Wenngleich Kinder natürlich auch abschreckend wirken, da sie laut und anstrengend sein können, so haben die Menschen zumindest keine Angst vor uns. Kindern wohnt eine Harmlosigkeit inne, die in einer Gesellschaft, die Angst vor Obdachlosen, sogenannten illegalen Einwander*innen und Fremden im Allgemeinen hat, sehr nützlich sein kann.
Auf einem Zeltplatz in Südkalifornien landet am frühen Morgen ein Stein neben unserem Zelt. Wir schauen uns um und verdächtigen zunächst unsere Kinder. Plötzlich kommt ein zweiter Stein geflogen, während unsere Kinder ungestört weiter spielen und uns kommt die Situation immer komischer vor. Nach dem dritten Stein entdecken wir ein kleines Mädchen, welches mit einem Katschi auf uns zielt. Ich habe Geschichten von Radreisenden gehört, die in Afrika mit Steinen beworfen wurden, aber dass das auch in Kalifornien passiert, ist mir neu. Marilyne stellt das Mädchen zur Rede. Sie ist neun Jahre alt, heißt Fury und ihr Name ist Programm. Da ihre Eltern noch schlafen und sie sich langweilt, hat sie die Aufmerksamkeit unserer Kinder gesucht. Wir weisen sie zurecht und kommen überein, dass Steine schleudern vielleicht nicht die geeignetste Methode sei, um Aufmerksamkeit zu erlangen. Wir bieten ihr an, mit Mika und Marla zu spielen. Dafür muss sie allerdings erst einmal ihre Eltern um Erlaubnis bitten, denn die sagen nämlich immer: „stranger = danger“. Als ihre Eltern eine Stunde später aufwachen, darf Fury spielen kommen. 🙂
Kinder brauchen Routinen. Sie wollen stets wissen, was als nächstes passiert. Unser Reisealltag besteht neben all den Überraschungen aus einem geregelten Tagesablauf. Unsere Kinder waren schon vor der Reise Langschläfer*innen, sodass es ihnen sehr entgegen kam, dass der Wecker in Alaska erst um neun klingelte. Seitdem es nachts wieder dunkel wird, orientiert sich unser Rhythmus am Tageslicht. In der Wüste im Süden Kaliforniens wachen wir jetzt mit dem Sonnenaufgang (vor um sechs) auf, um noch vor der Mittagshitze die ersten Meilen zu radeln.
Zwischen Aufwachen und Losfahren brauchen wir immer noch (mindestens) drei Stunden. In der Zeit frühstücken wir ausgiebig und während wir das Lager abbrechen, spielen die Kinder. Dann radeln wir zwei bis drei Stunden, während Mika im Optimalfall noch ein bisschen schläft. Zur Mittagspause sind die Kinder fit und wollen spielen, wohingegen wir uns eigentlich ausruhen wollen. Nach der Mittagspause radeln wir weitere ein bis zwei Stunden, sodass wir im Schnitt auf drei bis vier Stunden Fahrzeit am Tag kommen. Ab fünf Stunden werden die Kinder unruhig im Anhänger.
Auf dem glatten Asphalt der lower 48 radeln wir mittlerweile durchschnittlich vierzig bis fünfzig Kilometer am Tag. Ein bis zwei Stunden vor Sonnenuntergang suchen wir einen Schlafplatz. Da die Sonne im Winter in den lower 48 bereits vor um fünf untergeht, ist das Zeitfenster zum Radeln entsprechend klein.
Normalerweise versuchen wir ein bis zwei Ruhetage pro Woche einzulegen, aber die Ruhetage bringen die ganze Routine durcheinander, weil dann beispielsweise Mika nicht vom Geschaukel im Anhänger in den Mittagsschlaf gewiegt wird. Bereits kleine Überraschungen am Wegesrand (wie z.B. ein platter Reifen) können den ganzen Tagesablauf durcheinander wirbeln. Mit den Kindern gibt es keine kurzen Pausen. Wenn wir anhalten, wollen sie aussteigen und es kann (gefühlte) Stunden dauern, bis alle wieder verladen sind. Mit Kindern an Bord dauert alles länger. Deswegen fahren wir manchmal lieber weiter, anstatt die Aussicht zu genießen. Wir radeln und pausieren nicht, wann wir wollen. Die Kinder bestimmen unseren Reiserhythmus. Geduld ist grundsätzlich nicht ihre Stärke. Sie haben Bedürfnisse, die sofort befriedigt werden wollen. So halten wir des Öfteren am Straßenrand, weil eines der Kinder pullern muss oder Teddy im Fußraum des Anhängers verschwunden ist. Wenn Mika nicht sofort nach dem Aufstehen sein Müsli serviert bekommt, kann er sehr misslaunig werden.
Es vergeht kein Tag ohne Kindergeschrei und neben dem Radfahren ist immer auch ein bisschen Erziehung angesagt. Es ist gar nicht so einfach dem Geschrei zu entkommen. Bereits zu zweit gibt es auf Radtouren wenige Rückzugsorte. Zu viert ist es noch schwieriger, sich aus dem Weg zu gehen. Hinzu kommt, dass wir (als Radreisende im Allgemeinen und mit Kindern im Besonderen) ein sehr öffentliches Leben auf der Straße führen. Wir lernen dadurch viele spannende Menschen kennen, kommen aber auch selten zur Ruhe. Meistens gibt es lediglich zwei ruhige Momente am Tag: Den ersten beim Radfahren am Vormittag und den zweiten nachdem die Kinder ins Bett gegangen sind.
Wenngleich in der Welt einer radreisenden Familie nicht alles Friede, Freude, Eierkuchen ist, scheint uns diese Art zu reisen und zu leben im Moment eine sehr gute Wahl zu sein. Es ist sicherlich intensiv, aber unglaublich schön, viel Zeit mit den Kindern zu verbringen und nicht zwischen Arbeit und Kita hin- und herhetzen zu müssen. So können wir stundenlang Ameisen, das Meer oder den Sternenhimmel beobachten und endlos Warum-Fragen beantworten. Die Reise ermöglicht den Kindern wertvolle Erfahrungen zu sammeln. Sie lernen, die Natur zu respektieren und sich ohne Angst selbstständig in ihr zu bewegen; sie lernen sich mit den Konsummöglichkeiten zu begnügen, die solch eine Radreise bietet und sie lernen spielerisch andere Sprachen und Kulturen kennen. All das wird hoffentlich ihr Selbstvertrauen und ihren Glauben an das Gute in der Welt stärken. Was ihnen fehlt, sind die langfristigen sozialen Kontakte, die Kinder in ihrem Alter in der Kita aufbauen. Die meisten Bekanntschaften unterwegs sind von kurzer Dauer. Je älter sie werden, desto relevanter werden die eigenen Freund*innen. Wir werden das beobachten und Bericht erstatten.
vielen Dank immer wieder für Eure ach so schöne Beschreibung des “ganz normalen Lebens” Leben ist eben das was jeden Tag passiert. Egal wo 🙂 Ganz liebe Grüße aus Berlin