Sanft setzt unser Boot am Strand von Potosí auf. Das kleine Fischerdorf liegt am westlichsten Zipfel Nicaraguas auf der Halbinsel Cosigüina, die den Golf von Fonseca vom Pazifik abschirmt. Wir entladen unsere Räder und den Anhänger und schieben langsam durch den Sand zur Grenzkontrollstelle. Die Abfertigung der sieben Passagier*innen unseres Bootes dauert diesmal lediglich eine Stunde, was im Vergleich zu den vier Stunden bei der Ausreise heute Vormittag in El Salvador ziemlich schnell ist. Wir wollen heute aber sowieso nicht mehr weiterradeln und haben also keine Eile.
Bereits am ersten Abend werden wir in Gespräche über die politische Situation in Nicaragua verwickelt. Dabei werden wir so offensiv von Unbekannten angesprochen, dass wir das Gefühl bekommen, dass uns der Geheimdienst hier direkt hinter der Grenze aushorchen möchte, um herauszufinden, was wir in seinem Land vorhaben. Im April diesen Jahres entfachte eine Sozialreform blutige Proteste gegen die Regierung von Daniel Ortega. Die Sozialversicherungsbeiträge sollten angehoben und gleichzeitig die Renten gekürzt werden. Die Regierung nahm die umstrittene Reform zwar zurück, die Proteste weiteten sich jedoch auf das ganze Land aus und richteten sich bald nicht mehr nur gegen die Reformen, sondern gegen den autoritären Regierungsstil Ortegas im Allgemeinen. Ortega hat als guerillero in der Sandinistischen Revolution gekämpt und gehört der aus der Guerillaorganisation hervorgegangenen politischen Partei Frente Sandinista de Liberación Nacional (FSLN) an. Seit 2007 ist er (wieder) Präsident Nicaraguas. Seine Regierung unterdrückte die Proteste brutal und nahm dabei hunderte Tote in Kauf.
Der Tourismus in Nicaragua ist nach den Protesten völlig zum Erliegen gekommen. Das Auswärtige Amt hat die Reisewarnung für Nicaragua zwar seit Kurzem wieder aufgehoben, wir erleben jedoch ein Land, welches gerade erst ganz allmählich wieder erwacht (ohne dass die Probleme gelöst wären). Um uns erst einmal einen Überblick zu verschaffen, klettern wir am nächsten Morgen in aller Frühe auf den Vulkan Cosigüina. Von Meereshöhe geht es auf 858 Meter hoch.
Orientiert schwingen wir uns auf die Räder. Wir sind froh, die Route über die Halbinsel Cosigüina gewählt und uns gegen die Panamericana in Honduras entschieden zu haben. Auf den ersten siebzig Kilometern bis nach Chinandega, der ersten größeren Stadt, begegnen wir weitaus mehr Fahrrädern und Pferdewagen als Autos auf der Straße.
Die Nicaraguaner*innen sprechen sehr bereitwillig über ihre persönlichen Versionen von den Protesten. Die Meinungen gehen hierbei sehr weit auseinander. Der Rechtsanwalt, der seinen Beruf nicht mehr ausüben kann, sieht sein Land in einer linken Diktatur versinken. Der Arbeiter aus der Garnelenzucht hat Mühe die Aufregung zu verstehen, weil bei ihm auf dem Lande alles ruhig geblieben ist. Der Bauer findet, dass seine Mitmenschen, anstatt sich aufzuregen, lieber mit der Regierung und den Errungenschaften der Revolution zufrieden sein sollten. Der ehemalige guerillero, der heute Besucher*innen durch das Museum der Revolution in León führt, hält die Demonstrant*innen für contras, die dafür bezahlt wurden, gegen die Regierung aufzuwiegeln. Angeblich erhielten sie wöchentlich 500 Córdoba (umgerechnet ca. 13 Euro) und Marihuana. Die unterschiedlichen Meinungen zeigen, wie sehr das Thema die Bevölkerung polarisiert und lassen erahnen, wie kompliziert es sein wird, diesen Konflikt zu lösen.
Mit den Frauen hingegen ist es für uns viel schwieriger ins Gespräch zu kommen – kein Wunder in einem Land, in dem wir vielen Männern begegnen, die behaupten, dass die Frauen nicht arbeiten, sondern zu Hause durchgefüttert werden wollen. Auch in Nicaragua muss sich Marilyne viele sexuell anzügliche Kommentare anhören – ein Phänomen, welches uns bereits seit Honduras begleitet. Wir sind auch vorher nicht durch einen sexismusfreien Raum geradelt, aber die Diskriminierung war subtiler und erreichte uns auf dem Fahrrad nicht so unmittelbar.
Die abfälligen Bemerkungen über Frauen gehen oft (doch längst nicht immer) mit hohem Alkoholkonsum einher. In vielen zentralamerikanischen Dörfern liegen Betrunkene am Straßenrand, aber in keinem anderen Land sehen wir so viele trinkende (und rauchende) Männer wie in Nicaragua. Immerhin haben sie guten Geschmack und zaubern oft eine Flasche Flor de Caña aus der Hosentasche. Der einheimische Rum ist vergleichsweise erschwinglich. Vermutlich trinken die Nicaraguaner*innen auch nicht mehr als ihre Nachbar*innen im hohen Norden, wo die gebrauchten Whiskey-Fässer herkommen. Doch da sich das Leben in Zentralamerika im Gegensatz zu Nordamerika auf der Straße abspielt, sind hier auch alle seine Facetten sichtbarer.
León war die erste Stadt, die von den Sandinist*innen befreit und zur Hauptstadt der Revolution ausgerufen wurde. Bis heute wird León von der sandinistischen Partei FSLN regiert und ist das interlektuelle Zentrum Nicaraguas. Die Stadt zieht uns in ihren Bann. Wir bleiben ein paar Tage, bestaunen die koloniale Architektur und genießen das abwechslungsreiche kulinarische Angebot. Statt Reis, Bohnen, Eiern, Bananen und Tortillas (unsere Hauptmahlzeit in Zentralamerika) gibt es in León Essen aus aller Welt. Wir finden ein mexikanisches Restaurant und schwelgen in Erinnerungen. Gerade einmal drei Monate ist es her, dass wir die mexikanische Küche verlassen haben. Trotz ähnlicher Zutaten fühlt es sich wie eine kulinarische Weltreise an.
In León treffen wir das zweite Mal, seitdem wir vor einem guten halben Jahr das mexikanische Festland erreicht haben, auf andere Reiseradler*innen und nicht nur das: Wir begegnen einer anderen radfahrenden Familie aus Frankreich! Carlos, der Feuerwehrmann aus La Unión in El Salvador, hatte den Kontakt hergestellt, sodass wir Christophe, Valérie und ihre drei Kinder Esteban, Lalie und Naïa in unser Hostel lotsen konnten. Die VeLove Family erradelt die Welt in einem Jahr in drei Etappen: Nach Südamerika (Santiago de Chile – Lima/Peru) sind sie nun in Zentralamerika unterwegs (Cancún/Mexiko – San José/Costa Rica), bevor es bald weiter nach Südostasien geht. Die zehnjährige Lalie und der achtjährige Esteban radeln gemeinsam mit ihren Eltern auf jeweils einem Tandem. Die zweijährige Naïa rollt im Anhänger hinterher.
Am nächsten Morgen heißt es leider schon wieder Abschied nehmen, weil wir noch vor Weihnachten in Costa Rica ankommen wollen, wo sich der nächste Familienbesuch angekündigt hat. Wir lassen uns jedoch nicht die Chance entgehen, die Tandems der VeLove Family Probe zu fahren. Perspektivisch wird unser Anhänger für Marla und Mika zu klein werden. Da die FollowMe-Variante Marilynes Gewichtslimit überschritten hat, müssen wir uns nach anderen Lösungen umsehen.
Wir verlassen León und suchen nach kleinen Nebenstraßen, um die Panamericana zu umfahren. Die letzten zwei Tage vor der costa-ricanischen Grenze können wir sie aber leider nicht vermeiden, weil wir noch einen Abstecher zur Vulkaninsel Ometepe machen wollen. Für eine internationale Transitroute hält sich der Verkehr zwar in Grenzen, aber die Straße ist sehr schmal und die LKWs und Busse geben nicht viel Platz. Vor allem letztere hupen uns mehrmals regelrecht in den Straßengraben. Jedes Land hat ja so seine eigene Hupkultur, mit der nicaraguanischen werden wir jedoch nicht so richtig warm. Alle Fahrradfahrer*innen werden hier konsequent von hinten angehupt – angeblich, um sie vor dem Überholvorgang zu warnen. Wir erleben allerdings allzu oft, dass gehupt und dann – es wurde ja gewarnt – ohne Rücksicht auf Verluste einfach überholt wird. Die einheimischen Radler*innen verlassen deswegen in weiser Voraussicht die Fahrbahn, sobald sie die Hupe hören. Mit dem Anhänger im Schlepptau ist das jedoch nicht immer möglich. Bereits seit Honduras sind die Verkehrssitten auf unserem Weg nach Süden rauer geworden. Den Gipfel der Rücksichtslosigkeit erfahren wir aber in Nicaragua.
Wir messen die Rücksichtslosigkeit der anderen Verkehrsteilnehmer*innen ganz objektiv in Fahnenberührungen pro Land. Zur Erinnerung: Die Fahne auf unserem Anhänger ragt lediglich gut die Hälfte des in Zentralamerika empfohlenen Sicherheitsabstands von 1,50 Meter in den Verkehr hinein. In den USA und Mexiko wurde sie jeweils einmal berüht (beide Male im Schritttempo) und wir haben Monate gebraucht, um diese riesigen Länder zu durchqueren. Durch Honduras und El Salvador sind wir in wenigen Tagen geradelt, doch auch hier wurde der Abstandshalter jeweils einmal angefahren. Allein in Nicaragua sind nun schon fünf Autos gegen unsere Fahne gerast. Die merkwürdigste Situation erleben wir, als sich eine Autofahrerin in Sichtweite einer Polizeikontrolle viel zu dicht an uns schmiegt, um die durchgezogene Linie nicht zu überfahren, trotzdem kein Gegenverkehr in Sicht ist. Statt einer Strafe riskiert sie lieber unser Leben. 🙁