Hinter Neiva wird das Tal des Magdalenenstroms immer schmaler und wir klettern langsam in die Berge hoch. Auf der linken Seite rückt die Ostkordillere näher und rechts kommen die Gipfel der Zentralkordillere ins Blickfeld. Die Temperaturen lassen endlich nach und der Verkehr dünnt sich aus. Vor uns liegt die schönste Radelstrecke auf unserem Weg durch Kolumbien.
Ein Grund, warum wir das Landleben in Lateinamerika so mögen, ist, dass Geld eine wesentlich geringere Rolle spielt als in der Stadt. Natürlich brauchen auch die Landwirt*innen ein paar Pesos, um ihre Stromrechnung zu begleichen, zum Arzt zu gehen oder ihre Ernährung zu diversifizieren. Doch in der Stadt sind die Lebenshaltungskosten sehr viel höher, weil sich die Menschen dort nicht autark versorgen können und der Wohnraum teurer ist. Das spiegelt sich auch in unserer Beziehung zu den Einheimischen wieder. Die Landbevölkerung empfängt uns weniger als Tourist*innen, an denen sich etwas verdienen lässt. Sie ist arm, lebt jedoch in der Regel nicht im Elend. Wir bewundern sie für ihre Fähigkeit, ein einfaches, aber würdevolles Leben zu führen. Das wird uns im Süden Kolumbiens noch einmal bewusster, nachdem wir die Stadtbevölkerung im Küstenhinterland als trinkgeldaffin erlebt haben.
Nichts desto trotz ist die Landflucht in ganz Lateinamerika eine große gesellschaftliche Herausforderung. Auf der Suche nach Arbeit landen die Menschen oft in den Elendsvierteln der großen Städte, räumlich und sozial fein säuberlich von der reichen Klasse getrennt. Sie verlieren hier nicht nur die Möglichkeit sich selbst zu ernähren, sondern oft auch ihren Stolz und ihre Würde. Lateinamerika ist im globalen Vergleich die Region mit der größten sozialen Ungleichheit.
In San Agustín verabschieden wir uns vom Río Magdalena und nehmen unseren ersten Andenpass in Angriff. Der Anstieg ist sanft und gleichmäßig, sodass wir gut vorankommen. Die Landschaft um uns herum wird immer grüner.
Die Amazonasregion wurde uns von den Kolumbianer*innen weiter im Norden als sehr einsam beschrieben. Die damit verbundene Warnung haben wir auf unserem Weg durch Lateinamerika schon sehr oft gehört. Meistens sind es jedoch genau diese Routen, die uns als Radreisende besonders interessieren, weil sie die verkehrsärmsten sind und der Verkehr nach wie vor die größte Gefahr für uns darstellt.
Wir sind jedoch auch nicht naiv und versuchen uns, so gut es geht, über die aktuelle Sicherheitslage zu informieren. Die Grenzregion ist während des Bürgerkriegs eine sogenannte rote Zone gewesen und die Spannungen sind auch heute noch deutlich zu spüren. Wir kommen durch Dörfer wie El Tigre, wo die Paramilitärs vor zwanzig Jahren bei einem Massaker achtundzwanzig Personen ermordet haben, um die Kontrolle über die Drogen in der Region zurückzuerlangen.
Die Guerilla hat sich vor zehn Jahren aus dem Gebiet zurückgezogen. Bis dahin gehörten ihre Straßenkontrollen zum Alltag der lokalen Bevölkerung. Die Polizei- und Militärpräsenz ist geblieben. Wir passieren viele Kontrollposten und hören über uns die Hubschrauber kreisen, die die Grenze sichern sowie den Kokaanbau und die Drogenproduktion kontrollieren. Behelligt werden wir als ausländische Radreisende nie. Für mich als ehemaligen Zivildienstleistenden ist es jedoch äußerst gewöhnungsbedürftig, wenn Soldat*innen vor mir salutieren. Die Polizist*innen sind oft neugierig und halten uns immer mal wieder zum Schwatzen an. Die Einheimischen begegnen ihnen mit einer Mischung aus Angst und Resignation.
Auch die Erdölproduktion sorgt für Spannungen in der Region. Die Einheimischen erzählen uns, dass sie bereits die Straße blockieren mussten, um mit dem Erdölunternehmen ins Gespräch zu kommen, weil dessen Öl-Laster selbst für kolumbianische Verhältnisse zu rücksichtlos fuhren und auf den kurvenreichen Straßen für zahlreiche Unfalltote verantwortlich waren.
Wir zelten eine Nacht neben einer Unterkunft für Erdölarbeiter. Sie berichten uns, dass in der Region rund fünfhundert Arbeiter nicht nur mit der Erdölförderung, sondern auch mit Probebohrungen und der Erschließung neuer Felder beschäftigt sind. Sie verdienen dabei rund 50.000 Pesos am Tag (umgerechnet ca. 14 Euro). Das ist im Vergleich zu den Landarbeiter*innen relativ viel, die mit 20.000 Pesos (umgerechnet ca. 6 Euro) oft unter dem gesetzlichen Mindestlohn bleiben. Die Erdölarbeiter malochen drei Wochen am Stück, bevor sie in ihrer freien Woche zu ihren Familien pendeln. Das führt dazu, dass sich in der Region Männer und Geld konzentrieren, was wiederum Bars und Nachtclubs wie Koka aus dem Boden sprießen lässt und Prostitution mit sich bringt. Diesem merkwürdigen Ambiente werden wir auch noch im Norden Ecuadors begegnen.
Trotz aller Spannungen werden wir die Amazonasregion als die ruhigste Etappe in Kolumbien in Erinnerung behalten. Die Gegend gewinnt so langsam die Lebensqualität zurück, die ihrem natürlichen Reichtum gerecht wird.
Seit über einem Jahr radeln wir nun durch Lateinamerika und haben immer noch keines der legendären Casas de Ciclistas besucht. Kurz vor Mocoa bekommen wir endlich die Gelegenheit, dies zu ändern.
Die Casas de Ciclistas sind Oasen für Radreisende, in denen sie sich vom Tourenalltag ausruhen, mit anderen Radreisenden treffen und Energie für die nächste Etappe tanken können. Sie dürfen hier so lange verweilen, wie sie möchten – was auf Radreisen ein Luxus ist. Die Orte, an denen Reiseradler*innen unterwegs länger bleiben können, ohne die Gastfreundschaft der Einheimischen überzustrapazieren oder für die Unterkunft zahlen zu müssen, sind rar gesät.
Seit der Küstentiefebene radeln wir bereits auf der Nationalstraße 45 und werden ihr noch bis an die ecuadorianische Grenze folgen. Es hat ein Weilchen gedauert, bis sich die Straße von ihrer schönen Seite zeigt.
An der Grenze holt uns ein Thema ein, welches sich wie ein roter Faden durch unseren Kolumbienaufenthalt gezogen hat: Die venezolanischen Geflüchteten. Das Rote Kreuz und UNICEF haben hier an der Grenze ein Zeltlager aufgebaut, um die Geflüchteten auf ihrem Weg nach Ecuador zu unterstützen. Über drei Millionen Venezolaner*innen haben mittlerweile ihre Heimat verlassen müssen, von denen die meisten (über eine Million) ins Nachbarland Kolumbien geflohen sind. Auf der Suche nach Arbeit und einem besseren Leben ziehen jedoch immer mehr Venezolaner*innen weiter nach Ecuador, Peru und Chile.
Die Venezolaner*innen prägen das Straßenbild jeder noch so kleinen kolumbianischen Stadt. Wir begegnen Klebstoff schnüffelnden Jugendlichen und hoffnungslosen Familien, die bereits wieder auf dem Rückweg nach Venezuela sind, weil sie es nicht geschafft haben, sich in Kolumbien ein neues Leben aufzubauen. Wenn unsere Vorräte es hergeben, verschenken wir Essen oder Windeln. Wir haben jedoch auch Venezolaner*innen kennengelernt, die in Kolumbien ein kleines Lebensmittelgeschäft eröffnet haben und uns etwas zu essen schenken. Wir haben mittlerweile gelernt, auch solche Geschenke annehmen zu können.
Die Schicksale der Geflüchteten sind vielfältig. Was sie jedoch vereint, ist ihre ablehnende Haltung gegenüber dem venezolanischen Präsidenten Nicolás Maduro. Alle Venezolaner*innen, die wir unterwegs getroffen haben, unterstützten den Parlamentspräsidenten Juan Guaidó, der sich im Januar diesen Jahres zum Interimspräsidenten erklärt hat. Der Machtkampf geht indes unverändert weiter.
Die Kolumbianer*innen führen eine ambivalente Beziehung mit ihren Nachbar*innen. Viele Kolumbianer*innen sind während des Bürgerkriegs nach Venezuela geflohen und nicht wenige haben dort Familien gegründet. So warnte uns unterwegs ein Kolumbianer, dass wir uns vor den Venezolaner*innen in Acht nehmen sollen, weil sie alle kriminell seien – nur um im nächsten Moment von seiner venezolanischen Ehefrau zu erzählen. Dieser Art von Rassismus sind wir in den letzten zwei Jahren auf unserer Reise durch den amerikanischen Doppelkontinent bereits öfter begegnet. Viele US-Amerikaner*innen reden so über die Mexikaner*innen, von denen wiederum einige ebenso über die Zentralamerikaner*innen sprechen. In Costa Rica sind es die Nicaraguaner*innen und in Europa läuft es auch nicht anders. Meistens beschwert sich die reichere Aufnahmegesellschaft über die armen Nachbar*innen, die die Arbeitsplätze wegnehmen und den Wohlstand ausnutzen würden. So wie in Teilen der deutschen Gesellschaft herrscht auch in den reicheren Ländern Amerikas eine sehr große Angst zu teilen. Auch in Deutschland vergessen wir dabei gern unsere eigene Fluchtgeschichte.
Rassismus ist vielschichtig und leider wird oft zwischen „guten“ und „schlechten“ Ausländer*innen unterschieden. Als Europäer*innen werden wir in Lateinamerika überwiegend positiv aufgenommen, was uns einerseits freut, aber andererseits auch ein unangenehmes Privileg sein kann. Wohingegen sich einheimische Reiseradler*innen beklagen, dass sie von den Gastgeber*innen des Übernachtungsnetzwerks Warm Showers selten akzeptiert werden, haben wir diese Art der Ablehnung bislang nicht gespürt. Wir können an unserem Privileg nicht viel ändern, aber wir können es zumindest nutzen, um die Ungerechtigkeit zur Sprache zu bringen. Migration ist eine Herausforderung für die Aufnahmegesellschaft. Doch statt uns erfolglos hinter Grenzen zu verstecken, sollten wir sie lieber annehmen und gestalten.