Unter Radreisenden heißt es, dass Du Peru entweder lieben oder hassen wirst. Wir werden feststellen, dass auch beides geht. Wie so oft liegen Liebe und Hass dicht beieinander. Peru polarisiert und wir werden uns irgendwo zwischen den Polen bewegen. Aber der Reihe nach.
In der Pampa endet der Aspahlt. Die raue Schotterpiste nach Baños fordert uns und unser Material heraus. Das Fazit: Sechs gebrochene Speichen am Anhänger. Der Radmechaniker in Baños hat schon lange keine Fahrräder mehr repariert. Um zu überleben, hat er auf Motorräder umgeschult. Selbst auf dem Lande fahren die Peruaner*innen heute eher Motor- als Fahrräder. Er leiht mir jedoch sein Werkzeug, um die Speichen auf die richtige Länge zu kürzen und die Laufräder zu zentrieren.
Wohingegen die küstennahen Gebirgszüge in den peruanischen Anden sehr trocken sind, regnet es hier auf der anderen Seite der westlichen Andenkordillere immer häufiger. Ende September gilt eigentlich noch als trockene Reisezeit. Die Regenzeit beginnt hier erst im November. Trotzdem ergießt sich der Himmel fast jeden Nachmittag über uns. Je höher wir kommen, desto häufiger fällt der Regen als Hagel oder Schnee.
Hinter Antacolpa dringen wir wieder in spektakuläre Berglandschaften vor. Wir streifen das Naturschutzgebiet der Cordillera Huayhuash. Auch wenn es sich nicht wie beim Huascarán in der Cordillera Blanca um einen Nationalpark handelt, sind immerhin die Minenaktivitäten innerhalb der Schutzzone verboten. In den umliegenden Gebirgen sind unzählige Bergbauunternehmen aktiv und auch das Schutzgebiet Huayhuash wird von Konzessionen bedroht.
Die Straße führt mitten durch die Mine. Wir bahnen uns unseren Weg an den LKWs und Pickups vorbei. Einer der Pickupfahrer hält interessiert an und stellt sich als Biologe vor, der hier die Folgen des Bergbaus für die Umwelt untersucht. Die Ergebnisse seiner Studien übergibt er dem Umweltministerium, aber bezahlt wird er von dem Bergbauunternehmen. Auf unsere Frage, was denn hier abgebaut werde, hat er keine Antwort parat.
Für die siebzehn Kilometer brauchen wir sieben lange Stunden. Dreieinhalb Stunden haben wir gestrampelt und – wie so oft, wenn es bergan geht – noch einmal so lange pausiert. Erschöpft erreichen wir die Passhöhe auf 4.757 Metern und verlassen die Mine Raura.
Die Minen-LKWs und die Busse, die die Arbeiter*innen von der anderen Seite der Cordillera Raura den Berg hochbringen, haben unzählige Schlaglöcher in die Straße gefahren. Bergab sind wir dementsprechend auch nicht viel schneller. Immerhin fahren sie sehr rücksichtsvoll. Wir spüren die klare Arbeitsanweisung von oben. Die Ausnahme bildet die einzige Frau, die uns heute mit ihrem Pickup überholt und sich in dieser männlich dominierten Arbeitsumgebung vermutlich beweisen muss. Als sie mit einem Affenzahn wenige Zentimeter neben uns vorbeirauscht, können wir ihr vor Angst erstarrtes Gesicht sehen. Bremsen ist keine Option.
Wir hatten uns aufgrund des geringen Verkehrsaufkommens bewusst für diese Route entschieden. Vor der Mine Raura wurden wir auch nicht enttäuscht. In den letzten Tagen sind uns nur sehr wenige Autos begegnet, die jedoch ausnahmslos alle zu dicht an uns vorbeigerast sind. Von Empathie im Straßenverkehr fehlt hier jede Spur. Als wir uns nun hinter der Mine langsam den Pass hinunterarbeiten, kommt uns auf der anderthalbspurigen Schotterpiste vor einer uneinsehbaren Kurve ein Auto entgegen geschossen und drängt mich so nah an den Abgrund, dass ich vor Wut einen Stein aufhebe und auf seine Karosserie schleudere. Als der Fahrer aussteigt und mit mir diskutieren will, falte ich ihn so dermaßen zusammen, dass er schleunigst das Weite sucht. Vor lauter Panik würgt er seinen Motor ab und erst nach mehreren Anläufen springt der Wagen wieder an. Selbst mit ein paar Wochen Abstand kann ich mich immer noch in Rage schreiben, wenn ich an dieses Erlebnis zurückdenke. Normalerweise habe ich nicht den Hang, laut zu werden und schäme mich rückblickend auch ein bisschen für meine Reaktion. Doch wenn die Sicherheit meiner Familie (und in diesem Fall insbesondere der Kinder) auf dem Spiel steht, kenne ich kein Pardon.
Die peruanischen Autofahrer (von der eben erwähnten Ausnahme abgesehen, sind es vor allem Männer) haben jeglichen Sinn für Sicherheit und Respekt im Straßenverkehr verloren. Sie rasen mit einer Arroganz durch die Gegend, die, selbst wenn wir sie darauf ansprechen, oft nur ein dämlich-destruktives Lächeln für uns übrig hat. Verständnis können sie für uns nicht aufbringen. Diese Respektlosigkeit wird der Hauptgrund sein, warum wir das Land sehr bald fluchtartig im Bus verlassen werden. Wir haben es satt, uns tagein tagaus anhupen, von der Straße schubsen und anfahren zu lassen. In diesem Land fehlt leider eine Radkultur.
Auf der Abfahrt zur Minenarbeiterstadt Oyón kommt ein weiterer Grund hinzu, der uns bald in einen Bus steigen lassen wird. Nach den Speichen bricht nun auch die Achse am Anhänger. Unser Material hält den rauen Pisten nicht mehr Stand.
Wir lassen die Achse noch ein zweites Mal schweißen, um den Anhänger für den Transport zumindest schieben zu können. Es ist nun allerdings klar, dass wir eine neue Achse brauchen werden. Wir kontaktieren die Thule-Händler in Lima, die uns jedoch nicht zufriedenstellend weiterhelfen können. Sie bräuchten mindestens zwei Monate, um die Achse zu besorgen, sodass wir unseren Blick gen Süden weiten. Doch auch hier sind wir leider nicht erfolgreich. In Bolivien werden keine Kinderanhänger vertrieben und auch die Thule-Läden in Chile können keine Achse für uns auftreiben. Schlussendlich entschließen wir uns, die Achse in Europa zu bestellen und per Express schicken zu lassen. Aber wohin? Da das nächste bolivianische Postamt in der Hauptstadt La Paz liegt und wir normalerweise einen großen Bogen um die großen Städte machen, entscheiden wir uns für das kleine Bergdorf Putre in den chilenischen Anden, unweit der peruanischen Grenze.
Es gibt noch einen dritten Grund, warum wir es ein bisschen eilig haben und in einen Bus gen Süden springen wollen. Die Regenzeit sitzt uns im Nacken und wir wollen unbedingt noch über die Salzseen in Bolivien radeln, bevor sie unter Wasser stehen.
Eigentlich finden wir Busfahrten mit dem ganzen Gerödel doof. Es ist anstrengend, stets ein Auge auf unser Gepäck haben zu müssen und es geht immer etwas durch unsachgemäßen Transport kaputt. Mit einem LKW oder Pickup zu trampen, ist für uns wesentlich einfacher. Das ausgelaufene Shampoo in der Fahrradtasche lässt sich noch in der Kategorie „ärgerlich“ verbuchen. Verbogene Gepäckträger und abgebrochene Klingeln sind da schon nerviger. Natürlich hätten wir uns auch Kartons für die Räder und den Anhänger besorgen können. Die gibt es jedoch auch nicht an jeder Ecke. Hätte, hätte, Fahrradkette.
Peru war in vielerlei Hinsicht eine Herausforderung für uns. Im Hinblick auf das Relief war es die anspruchsvollste Etappe unserer Reise. In anderthalbtausend Kilometern haben wir neun Viertausender-Pässe und fast vierzigtausend Höhenmeter überwunden. Fast ein Drittel der Strecke haben wir auf kräftezehrenden Schotterpisten zurückgelegt – die meiste Zeit im ersten Gang. Kein Wunder, dass das größte Ritzel, welches ich gerade erste in Nordperu gewechselt habe, bereits wieder augenscheinlich verschlissen ist. Normalerweise schaffen wir mit einem Zahnkranz um die zehntausend Kilometer. Doch die peruanische Bergetappe hat sich zu einer regelrechten Materialschlacht entwickelt.
Wir haben das Land erst zur Hälfte auf dem Rad durchquert, als wir die radikale Entscheidung treffen, es schleunigst mit dem Bus wieder zu verlassen. Zweimal haben wir auf dieser Reise längere Strecken mit Bussen überbrückt – einmal um nach Peru zu kommen (nachdem uns ein Hundebiss in Ecuador aufgehalten hat) und nun katapultiert uns ein weiterer Bus anderthalbtausend Kilometer aus dem Land wieder heraus.
Wir verlassen Peru mit sehr gemischten Gefühlen. In keinem anderen Land auf unserer Reise war es so schwierig, einen Zugang zur Bevölkerung zu finden und das, obwohl wir beide fließend Spanisch sprechen. Wir haben durchaus neugierige Peruaner*innen getroffen, die sich für uns und unsere Reise interessiert, uns in den kleinen Bergdörfern einen Übernachtungsplatz angeboten oder eine Orange am Wegesrand geschenkt haben. Doch die große Mehrheit der Bevölkerung war sehr zurückhaltend. Oft schlugen uns nur Ein-Wort-Fragen entgegen. ¿País? Kein „Guten Tag“, kein „Aus welchem Land kommt Ihr?“ sondern einfach nur „Land?“. Ich habe kein Problem mit mürrischen Menschen – die gibt es in Norddeutschland ja auch zur Genüge 😉 – mit unfreundlichen hingegen schon. Die Einsilbigkeit ist auch nicht mangelnden Sprachkenntnissen geschuldet. Die Quechua-Frauen in den Bergdörfern, die Spanisch nur als Zweitsprache sprechen, waren oft am gesprächigsten.
In den gut drei Monaten, die wir durch Peru geradelt sind, wurden wir lediglich zweimal zum Übernachten eingeladen. Zum Vergleich: In Mexiko haben wir mindestens jede dritte Nacht bei Einheimischen verbracht. Damit wir uns nicht falsch verstehen: Ich erwarte von niemandem, dass sie*er sich für uns interessiert oder uns gar einlädt. Im Gegenteil empfinde ich es als durchaus angenehm, wenn wir nicht ständig als Fotomotiv herhalten müssen. Die den Bergvölkern innewohnende Zurückhaltung kommt mir als Fischkopf sehr wohl entgegen. Was mich jedoch irritiert, ist, wenn sich auch im Hotelwesen die Kommunikation auf Ein-Wort-Fragen beschränkt („Schlüssel?“) oder ich im Restaurant das Gefühl habe zu stören, wenn ich nach etwas zu essen frage.
Von zwei verschiedenen Männern, die mehr als ein Wort herausbrachten, mussten wir uns anhören, dass sie an unseren Kindern interessiert wären, um ihre „Rasse“ (O-Ton) aufzuwerten. Rassismus ist auf dem ganzen Kontinent ein alltägliches Thema. Als europäische Familie werden wir oft mit den damit einhergehenden Privilegien konfrontiert. Auch fehlender Stolz auf die eigene Herkunft ist uns schon des Öfteren begegnet. Doch diese Überbewertung stieß uns äußerst unangenehm auf. Beide haben es auf Nachfrage natürlich als Witz gemeint, über den wir jedoch nicht lachen konnten. Hier zeigte sich vielmehr deutlich, wie kolonialisiert die Gedankenwelt immer noch ist.
Seit Alaska sind wir nicht mehr durch so majestätische Landschaften geradelt. Doch die Begegnungen mit den wilden Tieren, die den Anfang unserer Reise so unvergesslich werden ließen, suchten wir in Peru vergeblich. Auch auf den höchsten Pässen und selbst innerhalb der Nationalparks begegneten wir lediglich Haustieren (Alpacas, Hunde, Kühe, Pferde, Schafe, Schweine und Ziegen). Auf unseren ersten Puma warten wir immer noch. Seit Kanada radeln wir bereits durch sein Habitat und hören immer wieder von ihm. Bislang war uns jedoch noch kein Glück beschieden.
Ebenfalls bis hoch zu den Gipfeln konnten wir beobachten, wie die Mutter Erde ausgebeutet wird. Auch weiter im Norden wird Raubbau an der Natur betrieben. Doch immerhin regt sich dort mehr Widerstand. Wir haben gehört, dass auch in Peru gegen Bergbauprojekte protestiert wird, aber die Gegenwehr ist (zumindest in der Andenregion, durch die wir geradelt sind) bei Weitem nicht so öffentlich präsent. Auf unserem Weg konnten wir kein einziges Banner oder Graffito ausmachen. Auch in den Gesprächen mit den Einheimischen war das Leiden der Pachamama kein Thema.
In Peru bewegten wir uns zwischen der großartigen Landschaft und dem respektlos-katastrophalen Straßenverkehr wie zwischen den Polen der Welt, zwischen denen wir unterwegs sind. Ohne negativ kein positiv. Radreisen sind – wie das Leben im Allgemeinen – eine ständige Suche nach dem besten Kompromiss. Landschaft und Verkehr sind hierbei jedoch zwei ihrer wichtigsten Komponenten. Die berühmten Nazca-Linien verschlafen wir im Nachtbus. Wir heben sie uns für ein nächstes Mal auf.
Definitiv! Aber erst, wenn die Kinder aus dem Zelt sind und wir wieder alleine auf Radreisen gehen. Peru lässt sich nur dort genießen, wo wenig Verkehr herrscht und das bedeutet abseits der asphaltierten Hauptstraßen (vor allem im Süden, wo die großen Städte und damit das Verkehrsaufkommen zunehmen). Auf Schotterpisten durch die Berge zu strampeln, ist jedoch mit dem Anhänger und einem Systemgewicht um die zweihundert Kilo auf Dauer einfach zu anstrengend. Mit leichtem Gepäck hingegen werden die Pisten zu grandiosen Radwegen. Das nächste Mal radeln wir Peru’s Great Divide Bikepacking Route! Jetzt freuen wir uns erst einmal auf eine verkehrsarme Route über den Altiplano. Wir wollen endlich wieder Landschaften genießen, ohne ständig fürchten zu müssen, dabei überfahren zu werden. 🙂
Chère petite famille, nous sommes très heureux de savoir que votre périple prend fin !!! oui, les paysages sont magnifiques, mais désertiques !! vos photos sont très belles !! mais vous rencontrez des galères !! ici, nous galérons avec le coronavirus.. je ne vous apprends sûrement rien !! Je ne sais si nous pourrons vous voir cet été !! mais l’essentiel est bien que vous RENTRIEZ !! J’ai pensé à vous assez souvent et prié qu’il ne vous arrive rien de grave !! On vous fait des grosses bises, et des bisous à Marla, et Mika !!
Ein Auf-und-ab… wie unterschiedlich doch die Menschen sind – aber die Landschaften sehen überaus gradios aus!
Gut, dass euch auf den Straßen nichts schlimmeres passiert ist, auch wenn es heftig gewesen sein muss, wenn du so reagierst.
Freu mich euch in nicht allzu langer Zeit wieder zu sehen!
Olaf