
Um die Ruta de las Vicuñas zu erreichen, müssen wir von dem kleinen Andendorf Putre zunächst noch eintausend Höhenmeter auf den Altiplano hinaufstrampeln. Zum Glück finden wir eine französische Familie, die uns unsere Lebensmittelvorräte für die nächsten neun Tage und Wasser mit dem Auto hochfährt. Obwohl wir somit dreißig Kilo leichter unterwegs sind, ist der Anstieg anstrengend genug.



Trotz aller Anstrengung sind die ersten Kilometer auf chilenischen Straßen ein Segen. Auf der Hauptstraße nach Bolivien sind zwar relativ viele LKWs unterwegs. Wir fühlen uns jedoch bei Weitem nicht so bedroht wie in Peru. Die peruanischen Verkehrssitten sitzen uns immer noch wie ein Schreck im Nacken. In Chile überholen uns die LKWs hingegen sehr respektvoll. Hier gilt das Recht der Stärkeren nicht mehr uneingeschränkt.


Der Kontrast zwischen Peru und Chile ist ähnlich groß wie der zwischen den USA und Mexiko oder Nicaragua und Costa Rica. Schon in Arica bemerkten wir sofort, dass wir eine andere Welt betreten haben. Die Autos halten an Zebrastreifen. Innerorts gibt es Radwege und dort wo es keine gibt, nehmen die Radfahrer*innen eine ganze Spur ein, ohne dass sich die Autofahrer*innen darüber beschweren würden. Es gibt wesentlich mehr weibliche Autofahrerinnen. In Peru ist dieses Privileg überwiegend Männern vorbehalten. Außerorts gibt es ab und an sogar einen Seitenstreifen. Auf den peruanischen Straßen kamen wir in anderthalbtausend Kilometern nicht einmal in diesen Genuss. Wir sind glücklich, dass wir das Radeln auf der Straße endlich wieder genießen können.

Kurz vor Sonnenuntergang erreichen wir die Rangerstation, wo die französische Familie den Sack mit unserem Essen versteckt hat. Wir bauen schnell unser Zelt auf, da es auf viereinhalbtausend Metern schlagartig frisch wird, sobald die Sonne untergeht. Für die heißen Quellen sind wir heute zu müde und heben sie uns für morgen auf.








Wir sind auf dem Altiplano angekommen. Die Hochebene erstreckt sich von Südperu über Bolivien bis ins nördliche Chile und Argentinien. Sie bildet die dickste Stelle der ansonsten eher schmalen Anden. Zwischen Arica in Chile und Santa Cruz de la Sierra in Bolivien weitet sich das Gebirge auf über sechshundert Kilometer, um für den Altiplano Platz zu machen. Die Hochebene ist zwar (abgesehen von den spiegelglatten Salzseen) auch nicht völlig flach, aber im Vergleich zu den nord– und zentralperuanischen Anden liegen zwischen den Pässen zumindest nicht jedes Mal mehrere tausend Höhenmeter. Fast zwei Monate werden wir nun oberhalb der dreieinhalbtausend Meter bleiben.






Hier oben auf dem Altiplano erfahren wir seit langem mal wieder, was es bedeutet, gegen den Wind ankämpfen zu müssen. Wir hatten ihn schon fast vergessen. In den peruanischen Tälern blies manchmal ein leichter Aufwind von der Küste kommend die Berge hoch. In Panama mussten wir einmal auf einer Passhöhe kurz absteigen, um vom Seitenwind nicht umgeworfen zu werden. Aber unsere letzten unangenehmen Erinnerungen an kalten und kräftezehrenden Wind reichen zwei Jahre bis nach Oregon zurück.















Wasser ist auf dem Altiplano ein rares Gut. Steppen- und wüstenhafte Landschaften wechseln sich miteinander ab. Da wir oft nur zwanzig bis dreißig Kilometer am Tag schaffen, müssen wir mit unserem Wasservorrat extrem gut haushalten.

















Zurück auf der Hauptschotterpiste müssen wir die Straße wieder mit den LKWs teilen. Auch die LKWs wollen zum Salar de Surire, um dort das Salz Ulexit abzuholen. Ende der Achtziger Jahre vergab die Militärregierung unter Augusto Pinochet die Konzession, wenngleich der Salzsee bereits damals unter Naturschutz stand. Seitdem baut das chilenische Unternehmen Quiborax das als Fernsehstein bekannte Salz hier ab, verarbeitet es in einer Fabrik u.a. zu Borsäure und verschifft diese weltweit über den Hafen in Arica.







Am nächsten Morgen wecken uns die Minen-LKWs um sechs Uhr mit laufenden Motoren. Wir löffeln eine weitere Alpaca-Suppe und können unverhofft sogar noch unsere Vorräte um drei Mohrrüben, zwei Zwiebeln und eine Rolle Klopapier aufstocken. Gestärkt bezwingen wir den letzten Pass auf dem Weg zum Salar de Surire. Am Ufer des Salzsees halten wir an einer Polizeistation. Die bolivianische Grenze ist nur noch wenige Kilometer entfernt.



An der Polizeistation lernen wir den Touristenführer Orlando kennen. Er bietet uns an, unser Trinkwasser zu den heißen Quellen von Polloquere mitzunehmen. Die Thermalquellen liegen auf der anderen Seite des Salzsees. Mit Orlandos Unterstützung schaffen wir es leichter bepackt die Quellen noch heute zu erreichen. Außerdem können wir somit morgen einen Ruhetag einlegen, um Marlas Geburtstag zu feiern.





Zur Geburtstagsfeier gesellt sich am nächsten Tag noch ein deutsches Ehepaar, welches die Nacht ohne Isomatten in einem Mietwagen verbracht hat. Da behaupte mal noch jemand, dass wir verrückt seien. 😉 Sie sind von der Idee, an diesem abgelegenen Ort Geburtstag zu feiern, so angetan, dass sie uns mit Wasser und Essen aushelfen. Auch Orlando hat gestern in unserem Sack nicht nur das Wasser, sondern darüber hinaus die Reste vom Picknick seiner Gruppe verstaut.

Das schwefelhaltige Thermalwasser ist nicht trinkbar. Unsere Lebensmittelvorräte hatten wir für neun Radeltage bis zum nächsten Dorfladen kalkuliert und werden sie dafür auch brauchen. Doch dank der Unterstützung unserer hilfsbereiten Mitmenschen können wir sogar zwei (sehr notwendige) Ruhetage an diesem außergewöhnlichen Ort verbringen und Marlas Geburtstag ausgiebig feiern.







Der einzige Wermutstropfen ist der Abschied von Negrita. Sie ist uns in den letzten fünf Tagen sehr ans Herz gewachsen. Die letzte Nacht hat sie sogar in unserem Vorzelt geschlafen, weil der Wind draußen so unerbärmlich pfiff. Doch von unseren knapp kalkulierten Vorräten können wir ihr leider nichts abgeben. Die Señora im Imbiss und die Polizisten hatten Knochen für sie übrig. Auch die Tourist*innen waren sehr großzügig. Auf Dauer ist das jedoch keine Lösung. Bislang wollte sich niemand ihrer erbarmen, bis heute Morgen drei Nationalparkranger aufgetaucht sind. Sie versprechen uns, Negrita zu ihren Besitzer*innen zurückzubringen. Ob es der Hündin dort besser gehen wird? Hoffentlich. Sie ist uns in der Hoffnung auf ein hundewürdigeres Leben in Freiheit gefolgt, welches wir ihr jedoch auf lange Sicht nicht bieten können. Nahrungsmittel könnten wir das nächste Mal vielleicht einplanen, aber sobald wir wieder Asphalt unter den Rädern haben, wären unsere Tagesetappen zu lang für sie und im Anhänger gäbe es keinen Platz.


Wir haben lange mit der weiteren Route gehadert. Es gibt eine Abkürzung, die nicht nur kürzer, sondern auch flacher wäre, aber für drei Kilometer durch bolivianisches Territorium führen würde. Im Internet kursieren die wildesten Geschichten von Krähenfüßen, die die bolivianischen Grenzschützer*innen einsetzen, um Autoschieberbanden aufzuhalten. Schmuggler*innen haben wir bislang keine getroffen, um sie nach dem Weg fragen zu können. Die Auskunftsbereitschaft der chilenischen Polizei hält sich verständerlicherweise in Grenzen. O-Ton: „Der Weg existiert.“ Die Reiseradler*innen, denen wir begegnen, nehmen eher den längeren Weg in Kauf. Die Touristenführer*innen hingegen empfehlen uns die Abkürzung. Sie benutzen sie gelegentlich, um ihre Kund*innen auf dem kürzesten Wege in das Grenzdorf Colchane zu transportieren, wohin wir auch unterwegs sind. Nachdem wir eine Weile hin- und herüberlegt haben, entscheiden wir uns dafür, den bolivianischen Pass in Angriff zu nehmen.





Während wir uns langsam den Abra Capitán hinunterarbeiten, taucht plötzlich ein Auto hinter uns aus. Da wir das schlimmste befürchten, beschleunigen wir auf das Maximum, was ein Feldweg in dieser Höhe hergibt. Wir wollen jeglichen Kontakt mit den bolivianischen Autoritäten vermeiden.

Das Auto ist auf dem Feldweg auch nicht so schnell unterwegs. Doch die Staubwolke kommt unaufhaltsam näher. Als sie uns auf chilenischem Boden einholt, ist die Überraschung groß. Aus dem Auto steigt Orlando – diesmal mit einer deutschen Reisegruppe im Gepäck. Obwohl er sich nicht sicher sein konnte, uns hier heute anzutreffen, war er heute Morgen extra für uns einkaufen. Unglaublich! Noch dazu ist sein Timing perfekt. Für unseren Mittagstisch zaubert er frisches Obst und Gemüse aus seinem Kofferraum.

Die Herzlichkeit der Menschen hier oben auf dem Altiplano erinnert uns an Alaska. Einmal mehr bestätigt sich eine Erfahrung, die wir auf dieser Reise sammeln durften: Je rauer die Gegend, desto herzlicher die Menschen.

In Anbetracht der Entbehrungen, die solch eine Reise mit sich bringt, bekommt selbst eine kleine Tomate einen ganz besonderen Wert. Sie schmeckt nicht nur anders, sondern ist ein Ausdruck von Mitmenschlichkeit. Wohingegen uns am Anfang der Reise die Fülle der Geschenke noch irritiert hat, wissen wir die Geste mittlerweile anzunehmen.




Als die Sonne untergeht, wird die einsame Hochebene unversehens lebendig. Im Schutze der Dunkelheit zieht vor unserem Zelt ein Konvoi mit 19 Autos und vollbeladenen LKWs vorbei. Die Fahrzeuge sind auf dem Weg nach Bolivien. Sie fahren ohne Licht, damit die bolivianischen Grenzschützer*innen sie nicht entdecken. Deren Militärlager konnten wir am Abend noch deutlich auf der anderen Seite der Grenze ausmachen. Im Mondlicht ist jetzt nur noch die Silhouette der Berge zu erkennen. Eine Stunde später kommen die LKWs leer zurück. Die Autos sind in Bolivien geblieben. Die ganze Nacht herrscht reges Treiben auf einer Straße, auf der tagsüber kaum ein Auto unterwegs ist. Doch sie stören sich nicht an unserer Anwesenheit. Wir ignorieren sie und sie uns.


Es ist nicht verboten, tagsüber mitten in der Pampa zu parken. So oder so ist das ganze Spiel so offensichtlich, dass die chilenische Polizei sicherlich davon weiß und mitspielt. Was soll sie auch tun? Um einen Konvoi in dieser Größenordnung anzuhalten, bräuchte sie sehr viel Personal, worüber sie hier oben nicht verfügt. Außerdem würde das nur dazu führen, dass sich die Schmuggler*innen einfach einen anderen Grenzübergang suchen. Die Grenze ist lang und schlecht zu bewachen. Also spielen die Chilen*innen einfach mit und leisten so ihren Beitrag, um die Ungerechtigkeiten dieser Welt ein bisschen abzubauen und eine Prise Wohlstand auf die andere Seite der Grenze zu bringen.


Für uns wird es nun langsam Zeit, zurück in die Zivilisation zu kommen. Nicht nur unsere Essensvorräte neigen sich ihrem Ende zu. Auch unsere Energiereserven sind aufgebraucht. Bei aller atemberaubender Schönheit ist dieses Radabenteuer sehr kräftezehrend. Wir sehnen uns nach einer Dusche, um die Strapazen und den Schwefelgeruch abzuwaschen, der auch Tage später noch an uns haftet.




Wir verbinden das Angenehme mit dem Nützlichen und warten in Colchane auf die Achse für unseren Anhänger. Das Paket hat es trotz Demonstrationen und Ausnahmezustand von Santiago bis nach Putre geschafft. Dort hat es Paulina für uns abgeholt und mit einer Touristengruppe nach Colchane weitergeleitet. Die Hilfsbereitschaft auf dem Altiplano kennt keine Grenzen. Es sind diese kleinen und großen Gesten am Wegesrand, die uns immer wieder Kraft geben, unsere Reise fortzusetzen.

