Als wir die Grenze nach Bolivien überqueren, findet mein Fahrrad plötzlich den Weg von ganz allein. Dreizehn Jahre ist es her, dass mich meine erste große Radreise durch Lateinamerika von Bolivien bis nach Feuerland führte. Mein Drahtesel rostet mittlerweile an einigen Stellen und die Pedalen quietschen, aber wir lieben uns immer noch wie am ersten Tag. Er hat im Alter deutlich zugenommen. Vielleicht bin ich auch schwächer geworden. Einige Teile mussten erneuert werden, aber er rollt und rollt und rollt – bis zur ersten Sandwehe.
Wir sind froh, den wuseligen Grenzort Pisiga hinter uns gelassen zu haben. Das erste Mal auf unserer Reise mussten wir in den sauren Apfel beißen und unsere Pesos in einer Wechselstube an der Grenze tauschen, da wir auf unserem Weg durch Bolivien an keinem Geldautomaten vorbeikommen werden. Zu den üblichen hohen Gebühren kam dieses Mal noch der Kursverlust aufgrund der Proteste in Chile hinzu. Seitdem wir vor zwei Wochen den letzten chilenischen Geldautomaten passiert haben, hat der Peso rasant an Wert verloren.
Die Protestwelle, die Lateinamerika erfasst hat, hat auch vor Bolivien keinen Halt gemacht. 2019 war ein besonders unruhiges Jahr im sogenannten lateinamerikanischen Frühling. Marilyne hat über die Demonstrationen berichtet, die 2015 zur Absetzung des guatemaltekischen Präsidenten Otto Pérez Molina führten. Letztes Jahr haben wir Nicaragua durchquert, kurz nachdem der Präsident Daniel Ortega die Proteste gegen seine Sozialreform brutal niedergeschlagen hatte. Dieses Jahr flammte der Widerstand in der ganzen Region auf. Neben dem notorisch unruhigen Venezuela weiteten sich die Proteste auf Kolumbien, Ecuador, Chile und Bolivien aus.
Auslöser der Proteste in Bolivien waren Unregelmäßigkeiten bei der Präsidentschaftswahl im Oktober diesen Jahres. Der indigene Präsident Evo Morales wollte zu seiner vierten Amtszeit auflaufen. Laut Verfassung stehen ihm jedoch lediglich zwei zu. Als es bei der Auszählung der Stimmen zu Unstimmigkeiten kam, mobilisierten seine Gegner*innen ihre Anhängerschaft. In den darauffolgenden Wochen legten die gewaltsamen Proteste große Teile des Landes lahm. Drei Tage bevor wir die Grenze nach Bolivien überquerten, ist Morales zurückgetreten und ins Exil nach Mexiko geflogen.
Der Evo Morales von heute ist nicht mehr der gleiche von vor dreizehn Jahren. Damals war er gerade an die Macht gekommen und das ganze Land befand sich im Aufbruch. Seine Wahl war Teil eines Linksrucks, der durch den südamerikanischen Kontinent ging (über den ich bereits im Zusammenhang mit dem ecuadorianischen Präsidenten Rafael Correa geschrieben habe). Die Euphorie war ansteckend und hat mich nachhaltig politisch inspiriert. Als erster indigener Präsident setzte er sich konsequent für die Rechte der indigenen Völker ein und schuf einen plurinationalen Staat. Nach fünfhundert Jahren kolonialer Unterdrückung erfuhren die indigenen Völker eine bis dato unbekannte Wertschätzung und bekamen ihren Platz in der Politik. Der plurinationale Staat strahlte weit über seine Landesgrenzen hinaus.
Heute ist die politische Stimmung jedoch eine ganz andere. Viele Anhänger*innen haben sich enttäuscht abgewandt. Sie fühlen sich vom heutigen Morales nicht mehr vertreten. Wie in Chile sind es vor allem die jungen Menschen, die auf die Straße gehen. Die meisten der Schüler*innen und Student*innen haben in ihrem politischen Leben keine anderen Präsident*innen außer Morales kennengelernt. Im Gegensatz zu den Protesten in Chile, wo die Zivilgesellschaft gegen die Regierung kämpft, stehen sich in Bolivien jedoch politische Gegner*innen gegenüber. Die bolivianische Zivilgesellschaft ist tief gespalten. Die mit den Protesten einhergehende Gewalt ist für uns dadurch weniger kalkulierbar als in Chile. Wir entscheiden uns deswegen für eine Route abseits jeglicher Städte über den Altiplano. Hier in seiner Heimat genießt Morales immer noch großen Zuspruch.
Zwölf Kilometer hinter der Grenze verlassen wir den Asphalt und werden ihn in Bolivien nicht mehr wiedersehen. Die bolivianischen Pisten haben sich in den letzten dreizehn Jahren nicht groß verändert. Während viele Hauptstraßen mittlerweile asphaltiert worden sind, regieren im Hinterland immer noch Sand und Wellblech auf den Wegen.
Radreisen auf dem Altiplano bedeutet auch immer auf der Suche nach der besten Spur zu sein. Wir schieben von der rechten in die linke Spur, in der Hoffnung, dort ein Stück fahren zu können. Doch bereits nach wenigen Metern müssen wir die Hoffnung erneut im Sand begraben und wieder zurückschieben. So geht das tagelang.
Wenn das sandige Stück kurz genug ist, können wir Schwung holen und dann im kleinsten Gang hindurchstrampeln. Doch wenn unsere zweihundert Kilo erst einmal im Sand stecken geblieben sind, hilft nur noch aussteigen und schieben. Das dauert.
Wellblech fährt sich besser als Sand – zumindest mit dem Anhänger. Zwar können wir auch hier nur im Schritttempo fahren, weil unser Gespann aufgrund seiner Länge wie ein Schiff auf dem Meer schaukelt, aber immerhin kommen wir vorwärts.
Am anstrengendsten ist es, wenn sich Sand und Wellblech abwechseln. Wir holen Schwung, um durch den Sand zu rollen und landen unversehens auf dem Wellblech, wo wir ordentlich durchgeschüttelt werden. Kein Wunder, dass unser Tagesdurchschnitt selten sechs Stundenkilometer übersteigt.
Ab und an passieren wir ein kleines Dorf. Im Gegensatz zu den Straßen ist in den Dörfern einiges passiert, seitdem Morales die Regierungsgeschäfte übernommen hat. Viele Dörfer verfügen mittlerweile über Strom und oft sogar fließendes Wasser. In den größeren Dörfern sind kleine Gesundheitszentren entstanden. Allerdings gibt es in einigen Dörfern immer noch keine Toiletten, weder Wasser- noch Trockenklosetts. Stattdessen nutzen die Einheimischen die große Toilette in der Pampa. Um niemanden in der baumlosen Hochebene zu überraschen, habe ich mir angewöhnt zu klingeln, wenn ich in der Ferne jemanden am Wegesrand hocken sehe.
Schon in normalen Zeiten ist die Auswahl an frischem Obst und Gemüse auf dem Altiplano sehr eingeschränkt. Während der Proteste kommt nun erschwerend hinzu, dass die Hauptstraßen des Landes blockiert sind und die Waren aus den tieferen Regionen nicht mehr ins Hochland transportiert werden können. Wenn die Bolivianer*innen protestieren, dann richtig. Das war schon damals so.
Während unseres kurzen Aufenthalts in Chile sind wir beim Essen verwöhnt worden. Nicht, dass die chilenische Küche sonderlich exquisit wäre, aber die Auswahl in den Geschäften ist deutlich größer und vor allem sind die Hygienestandards spürbar besser. In Bolivien werden Übelkeit und Durchfall wieder zu unseren alltäglichen Reisebegleitern, von denen wir glaubten, sie in Peru lassen zu dürfen.
Ende November über die bolivianischen Salzseen zu radeln, ist bereits recht spät im Jahr. Die Regenzeit beginnt zwar offiziell erst in einem Monat, aber wir werden in den nächsten Tagen schon einige Gewitter erleben.
Die Dorfbewohner*innen am Ufer des Salars nutzen das salzige Grundwasser nur zum Kochen. Das Trinkwasser wird auf LKWs angeliefert. In den Dörfern, die ein paar Kilometer vom Salzsee entfernt liegen, wird das Grundwasser auch getrunken. Es ist nicht mehr ganz so salzig, aber gut schmeckt es trotzdem nicht. Bereits nach wenigen Schlucken vergeht uns die Lust am Trinken. Wir zwingen uns wohlwissend, dass wir nach der körperlichen Anstrengung unseren Flüssigkeitsmangel ausgleichen müssen. Der Beigeschmack wird jedoch noch fader, wenn wir daran denken, dass die Einheimischen dieses Wasser tagtäglich trinken.
Der Salar de Uyuni ist nicht nur wesentlich größer als der Salzsee Coipasa, sondern der größte seiner Art weltweit. Mit über zehntausend Quadratkilometern erstreckt er sich auf einer Fläche größer als Vorpommern. Wir wollen ihn von Norden nach Süden auf dem kürzesten Wege durchqueren. Wohingegen wir die vierzig Kilometer über den Salzsee Coipasa noch an einem Tag schaffen konnten, liegen nun neunzig Kilometer Salzwüste vor uns. Wir haben jedoch keine Eile. Um dieses grandiose Naturwunder bis zum letzten Salzkörnchen auszukosten, wollen wir drei Nächte auf dem Salar verbringen.
Die Insel Incahuasi ist in normalen Zeiten der Ort Boliviens, an dem sich gefühlt der ganze Tourismus im Land konzentriert. Schon während der chilenischen Proteste konnten wir beobachten, wie sich die Anzahl der Tourist*innen in der Region schlagartig reduzierte. In Bolivien ist es nicht anders. Wohingegen am Anfang der Proteste noch die letzten Tourist*innen ihre Rundreisen beendeten, kommen nun kaum noch neue nach. Viele haben ihre Reisen aufgrund der Unruhen storniert. Dementsprechend wenige Jeeps parken heute am Ufer der Insel.
Wir lernen Don Alfredo, den ersten Einwohner der Insel, kennen. Er lebt hier mit seiner Familie von den Tourist*innen. Unter Radreisenden ist die Familie ähnlich legendär geworden wie beispielsweise Coco in Niederkalifornien. Besondere Orte und besondere Menschen bedingen sich gegenseitig. Sie erlauben uns Radreisenden im Raum hinter dem Museum zu nächtigen und vor allem mehr Zeit auf dem Salar zu verbringen. Ohne die Gewissheit, unsere Wasservorräte bei ihnen auffüllen zu dürfen, hätten wir keine vier Tage in dieser magischen, aber doch unwirtlichen Gegend auf dem Salz verweilen können.
Auf der Insel Incahuasi schließt sich ein Kreis. Unsere Radreise kreuzt sich hier mit meiner ersten Radtour durch Bolivien. Dreizehn Jahre ist gar nicht so lange her und doch waren es andere Zeiten. Fotografiert haben wir damals noch analog, was heute wie aus der Zeit gefallen wirkt. Unglaublich, wie viel Platz die Dias im Schrank eingenommen haben und wie unflexibel die Vorträge nach der Reise waren. Heute empfangen wir selbst auf der Insel Incahuasi mobile Daten und können die Fotos in Echtzeit auf die Bildschirme unserer Freund*innen und Familie schicken.
Seinerzeit waren wir noch ohne GPS, Mobilfunk und Internet unterwegs. Smartphones, wie wir sie heute kennen, die diese Eigenschaften sogar in einem Gerät vereinen, gab es noch nicht. Unsere Landkarte für die schon damals in Reiseradlerkreisen legendäre Ruta de las Lagunas war noch von Hand gezeichnet. Die Kompassnadel ist aufgrund des Salzes abgewichen, sodass wir uns auf dem Weg von der Insel zum Ufer verfahren haben. Heute sollte uns das mit der modernen Technologie nicht mehr passieren.
Nicht nur die Navigation ist (OsmAnd sei Dank) wesentlich einfacher geworden. Es gibt noch ein paar weitere Apps, die das Nomadenleben erleichtern. Warm Showers, die Plattform auf der Radreisende und Gastgeber*innen zueinanderfinden, begleitet uns seit dem Beginn unserer Reise in Alaska. Um einen schönen Schlafplatz in der freien Natur zu finden, erweist sich iOverlander als hilfreich. Die App richtet sich vorwiegend an Overlander*innen, sprich motorisierte Fernreisende mit umgebauten Allrad-Jeeps oder -LKWs. Sie teilen über das Programm Stellplätze und andere nützliche Informationen rund ums Reisen, von denen auch Radreisende profitieren können. Einerseits.
Andererseits führt das zu dem, was wir den iOverlander-Effekt nennen könnten. Die gleiche Dynamik, die dem Lonely Planet-Effekt zu Grunde liegt, können wir auch bei iOverlander beobachten. Es ist der Wandel eines Ortes vom angeblichen Geheimtipp zu einem Massenphänomen. Natürlich ist die Dimension eine andere. Es gibt wesentlich weniger Overlander*innen als Backpacker*innen. Auf den wilden Zeltplätzen treffen wir nie auf andere Reisende. Die tummeln sich eher auf den offiziellen Campingplätzen. Dafür begegnen wir oft ihren Spuren. Die Reifenspuren sind dabei noch das kleinere Problem. Müll und vor allem Kacke und Klopapier ärgern mich viel mehr. An den anorganischen Abfällen haben sicherlich auch die (einheimischen) Tagesgäste ihren Anteil. Doch die organischen Überreste lassen sich relativ eindeutig den Übernachtungsgästen in die Schuhe schieben – wobei natürlich immer erst die nächsten Gäste hineintreten.
Das Internet und seine Austauschplattformen führen auf der einen Seite zu weniger Abenteuer. Die Reisenden treffen sich an den gleichen Orten und damit gleichen sich ihre Reisen einander an. Wir haben unterwegs auch schon enttäuschte Backpack*innen und Overlander*innen getroffen, die es satt hatten, auf dem Gringo Trail zu wandeln. Auf der anderen Seite werden die Reisen durch die verfügbaren Informationen planbarer und dadurch komfortabler und sicherer – Kriterien, die für uns als Familie mit kleinen Kindern durchaus ihren Wert haben. Wir haben nicht den Anspruch, das Rad neu zu erfinden. Letztendlich muss jede*r Reisende für sich den besten Kompromiss finden.
Diese Salzseen – mich haben schon vor Jahren die Fotos in deiner Wohnung fasziniert, auf denen du in der magischen weißen Weite fährst. Und dieses mal wieder – richtig coole Fotos inklusive 🙂
Rein optisch seh’ ich parallelen zum zugefrorenem Baikalsee – zwar ganz anders aber irgendwie doch gleich…
Wiedermal einige Gedankenanstöße zu komplexen Themen…. natürlich die Unterschiede in den Ländern Südamerikas (Lebensstandards, Politik,…) aber auch globale Phänomene, wie der iOverlander-Effekt. Beispiel: früher bei den ersten FrozenNoses kam mir das Elbi noch wie eine Geheimtipp vor. Mittlerweile gibt’s zu viele Nachrichten über menschengemachte Waldbrände und überfüllte Boofen im Nationalpark.
Wie immer: Beste Grüße!
– Olaf
Ja, es ist nicht immer ganz einfach, die richtige Balance zu finden… Den zugefrorenen Baikalsee werden wir bei einer zukünftigen Routenplanung in Betracht ziehen. 😉