Chachapoyas – so nannten die Inka das vor ihnen hier ansässige Volk, was so viel wie „Wolkenmenschen“ bedeutet. Auch wir fühlen uns das ein oder andere Mal wie Wolkenmenschen, wenn wir völlig abgekämpft an einem der unzähligen Pässe oben ankommen und auf der anderen Seite ins Tal hinabblicken.
Wir haben den Amazonas nun endgültig links liegengelassen und sind in die Anden hoch geklettert. An die trockene Bergluft und die Höhe müssen wir uns erst noch gewöhnen. Trotzdem fühlen sich die ersten Kilometer angenehm leicht an, weil wir ohne Kinder und Gepäck unterwegs sind. Die Groß-Eltern fahren sie im Begleitfahrzeug hinterher. Für Marilyne ist das eine gute Möglichkeit, um sich nach dem Hundebiss in Ecuador und der darauffolgenden sechswöchigen Radpause langsam wieder an die Pedalen heranzutasten.
Nach dem Hundebiss sind wir mit dem Bus von Macas im ecuadorianischen Regenwald bis nach Chachapoyas in den peruanischen Anden gefahren, um dort rechtzeitig unseren Besuch in Empfang zu nehmen. Nachdem wir knapp eintausend Kilometer durchgeschüttelt worden sind, mussten wir uns zunächst ein paar Tage in der Kleinstadt akklimatisieren. Die Groß-Eltern brachten aus Deutschland langersehnte Ersatzteile für unsere Räder und den Anhänger mit. Ich vereinbarte einen Termin mit dem einzigen Radmechaniker in der Stadt, zudem er allerdings so betrunken auftauchte, dass wir die Arbeiten auf den nächsten Tag verschieben mussten. Am folgenden Tag erschien er mit einem schlechten Gewissen, aber arbeitsfähig. Den ganzen Tag durften wir in seiner Werkstatt schrauben. Wir tauschten Zahnkränze, Ketten und ein kleines Kettenblatt.
Da wir kein Werkzeug auftreiben konnten, um den Freilauf in meiner Hinterradnabe zu öffnen und die gebrochenen Sperrklinken zu ersetzen, bot der Radmechaniker kurzerhand an, die komplette Nabe neu einzuspeichen. Auch in Ecuador war es bereits sehr kompliziert gewesen, das passende Werkzeug zu finden. Statt in einem Radladen wurde ich bei einem passionierten Radfahrer aus der Nachbarschaft fündig. Damit konnte ich den Freilauf zerlegen und mit den verbliebenen zwei Sperrklinken noch durch Ecuador radeln.
Marilyne bekam einen neuen Ständer, da sie ihren ungenutzt spazieren fuhr, seitdem er in Alaska abgebrochen war. Der neue Zweibeiständer wird hoffentlich länger als sein einbeiniger Kollege halten. Außerdem mussten wir ihre hydraulischen Felgenbremsen ersetzen, die seit Kolumbien am Geberkolben leckten. Da wir bislang keinen Ersatz auftreiben konnten, haben wir ihre Bremsanlage nun auf klassische V-Brakes umgerüstet. Unserem Anhänger spendierten wir eine neue Federung, nachdem wir die alte in Kolumbien schweißen lassen mussten. Darüber hinaus gab es ein paar neue Reifen und ein neues Verdeck, da das alte unter der tropischen Sonne sehr gelitten hat.
Die Groß-Eltern brachten nicht nur Fahrradersatzteile, sondern auch unsere warme Winterausrüstung für die bevorstehende Etappe durch die Anden mit. Dicke Schlafsack-Inletts und eine großer Evazote-Teppich werden ab sofort für zusätzliche Isolierung im Zelt sorgen. Im Gegenzug schickten wir unsere Tropenausrüstung zurück nach Deutschland. Unser Moskitozelt werden wir so schnell nicht mehr brauchen.
Nachdem wir Esther verabschiedet haben, radeln wir unsere erste Tagesetappe mit dem großelterlichen Begleitfahrzeug im Schlepptau entlang des Río Utcubamba zu den Ruinen von Kuélap. Die Chachapoya errichteten hier auf einem Bergrücken in über dreitausend Meter Höhe ihre imposanteste Siedlung. Die Arbeiten an der Festungsanlage begannen im fünften Jahrhundert und damit eintausend Jahre bevor die berühmte Inkastadt Machu Picchu (im Süden des heutigen Perus) erbaut wurde. Die Inka unterwarfen die Chachapoya kurz bevor die spanischen Kolonialherren hier ankamen. Doch die Kolonisation sollte der radikalere Einschnitt in das Leben der hiesigen Bevölkerung werden.
Die Inka verbreiteten ihre Sprache auf dem ganzen Kontinent, weswegen Quechua auch heute noch die meist gesprochene indigene Sprache in Südamerika ist. Viele Wörter aus dem Quechua haben ins peruanische Spanisch Einzug gehalten. Wir lernen, dass hier auch im Spanischen der Mais choclo und die Avocados paltas genannt werden. Die Kolonialsprachen Spanisch und Portugiesisch haben jedoch Quechua mit deutlichem Abstand auf den dritten Platz verwiesen und viele andere indigene Sprachen verdrängt. Das Chachapoyas-Quechua ist so gut wie ausgestorben – ein trauriges Thema, welches uns auf dieser Reise bereits bei den Haida auf Haida Gwaii in Kanada und den Lenca in Honduras begegnet ist. Mit ihrer Sprache verlieren die indigenen Völker einen elementaren Bestandteil ihrer Kultur.
Auch heute noch leben Quechua in der Region, allerdings begegnen wir auf unserer Route überwiegend spanischsprechenden Landwirt*innen. Unsere ersten Worte auf Quechua werden wir erst viel weiter südlich in der Cordillera Blanca lernen. Die meisten indigenen Völker im Norden Perus leben hinter den Kordilleren im Amazonasgebiet.
In Leymebamba verlassen wir das Tal des Río Utcubamba. Vor uns liegt der erste Dreitausender-Pass auf unserer Reise. Zunächst müssen wir dreißig Kilometer hochradeln, bevor es auf der anderen Seite sechzig Kilometer hinunter zum Río Marañón geht. Da wir im Konvoi mit den Groß-Eltern auf feste Unterkünfte angewiesen sind, müssen wir den Pass an einem Tag bezwingen. Entsprechend früh machen wir uns auf den Weg.
Nach sechs Tagesetappen endet die Tour de Pérou, weil das Urlaubskontingent des Begleitfahrzeuges aufgebraucht ist. Auf der letzten Abfahrt stellen wir einen neuen Geschwindigkeitsrekord von sechzig Stundenkilometern auf, bevor uns die nächste Serpentine ausbremst. Vom Fahrtwind ausgekühlt erreichen wir Aguas Calientes. Ein heißes Bad kommt uns jetzt gerade recht. Wir verabschieden die Groß-Eltern und müssen nun Kind & Kegel wieder selbst die Berge hochziehen.