Das chilenische Kapitel unserer Reise beginnt mit einer Liebesgeschichte zwischen einem Grenzschützer und seinem Hund. Die Hunde spüren an Chiles Grenzen Früchte auf, die die Reisenden versuchen, hinüber zu schmuggeln. Die Einfuhr von Obst, Gemüse, Fleisch und anderen frischen Lebensmitteln ist verboten. Acht Jahre arbeiteten die beiden hoch oben auf dem Altiplano zusammen, bis sein Hund in Rente gehen musste. Ohne seinen Hund verlor seine Arbeit ihren Sinn. Der Grenzbeamte kündigte ebenfalls und nahm den Hund mit nach Hause, wo er eine Pizzeria eröffnete.
Doch wie heißt es so schön: Wenn Du den Inhaber Deiner Lieblingspizzeria beim Namen kennst, ist es höchste Zeit weiterzuradeln. Wir erledigen unseren Großeinkauf für die nächsten Wochen, mit all den schönen und nützlichen Dingen, die es oben auf dem Altiplano nicht gibt. Sogar einen Lippenstift mit UV-Schutzfaktor finden wir. Nachdem wir das letzte halbe Jahr in den ländlichen Regionen der Anden verbracht haben, erschlägt uns das Angebot in den Konsumtempeln Aricas förmlich. Ein letzter Bus bringt uns in das kleine Bergdorf Putre, wo wir auf die Achse für unseren Anhänger warten wollen.
Am Busbahnhof sehen wir die ersten Fernsehbilder von Unruhen in Santiago de Chile. Die Proteste in der Hauptstadt haben sich an einer Preiserhöhung für die U-Bahnfahrscheine entzündet. Die Fahrkarten sollen zukünftig 830 statt bisher 800 Pesos (umgerechnet ca. 1,04 statt 1,00 Euro) kosten. Zunächst sind es Schüler*innen, die aus Protest zum kollektiven Schwarzfahren aufrufen. Doch die Unruhen weiten sich schnell generationenübergreifend auf das ganze Land aus. Als die Fahrpreiserhöhung zurückgenommen wird, geht es längst um viel mehr. Chile despertó („Chile ist aufgewacht“) ist das Motto der Demonstrationen in allen größeren Städten des Landes. In Santiago sind über eine Million Menschen auf der Straße. Es sind die größten Massenproteste seit dem Ende der Militärdiktatur unter Augusto Pinochet vor dreißig Jahren.
Der aktuelle Präsident Sebastián Piñera behauptet, dass sich sein Land im Krieg befinden würde. Er ruft den Ausnahmezustand aus, verhängt Ausgangssperren und reagiert mit Gewalt. Das erste Mal seit der Militärdiktatur patrouillieren wieder Soldat*innen durch die Straßen. Die Panzer rufen böse Erinnerungen in der Zivilgesellschaft wach. Doch gegen wen wähnt sich der Präsident im Krieg? Ihm gegenüber steht die eigene Bevölkerung, die jedoch ohne Waffen kämpft. Eine Woche nach Beginn der Proteste sind bereits 22 Tote zu beklagen und es ist kein Ende der Gewalt in Sicht.
El pueblo unido erklingt wieder auf den Straßen Chiles. Das Protestlied wurde im Widerstand gegen die Militärdiktatur gesungen. Einmal mehr wird es nun zum Symbol des Protestes gegen die herrschende Klasse.
Anfangs diffamiert Piñera die Demonstrant*innen als Kriminelle und nimmt ihre Forderungen nicht ernst. Das gleiche Muster können wir auch in Ecuador und bei den Gelbwesten in Frankreich beobachten, wo sich die Proteste an einer Benzinpreiserhöhung entzündet haben und die Regierungen ebenfalls nicht willens oder in der Lage sind, ihrer Bevölkerung zuzuhören. Später lenkt Piñera ein und gibt vor, auf die Bevölkerung zugehen zu wollen. Er tauscht sein Kabinett aus, möchte aber selbst an der Macht bleiben, was viele Chilen*innen nicht hinnehmen wollen. Sie haben genug. Ihnen geht es nicht mehr um die vier Eurocent Preiserhöhung im Nahverkehr, sondern sie wollen vielmehr ihr Land von Grund auf reformieren. Chile ist aufgewacht!
Chile ist das wirtschaftlich stärkste Land Südamerikas, aber gleichzeitig auch das Land mit der größten sozialen Ungleichheit. Die Chilen*innen haben zwar ihren Präsidenten bei der letzten Wahl bereits zum zweiten Mal gewählt. Jetzt haben sie jedoch seine neoliberale Politik satt. Ein Großteil der Bevölkerung leidet unter den Folgen der Privatisierung der öffentlichen Güter. Piñera möchte darauf nun mit kleinen Reformen reagieren. So soll die Mindestrente von gut 100.000 Pesos (umgerechnet ca. 125 Euro) auf 120.000 Pesos (ca. 150 Euro) angehoben werden.
In Chile gibt es keine öffentliche Rentenkasse. Nur die Polizist*innen und Soldat*innen erhalten eine Pension vom Staat – ein Relikt aus Pinochets Zeiten. Die restliche Bevölkerung muss in private Rentenfonds einzahlen und das damit einhergehende Risiko in Kauf nehmen. Alle Chilen*innen, die keine private Rente erhalten, bekommen am Ende ihres Arbeitslebens die Mindestrente. Doch wie sollen sie mit 125 oder 150 Euro im Monat überleben, in einem Land, in dem die Lebenshaltungskosten annähernd so hoch sind wie in Deutschland? Die Reformpläne der Regierung sind also lediglich der berühmte Tropfen auf einen sehr heißen Stein. Kein Wunder, dass die Proteste anhalten – und unser Paket mit der Achse für den Anhänger befindet sich mittendrin.
Seitdem das Paket aus Deutschland auf dem Flughafen von Santiago angekommen ist, hat es sich nicht mehr bewegt. Da wir nicht wissen, wie lange es noch dauern wird, fährt Marilyne noch einmal zurück nach Arica, um eine Ersatzachse bauen zu lassen.
Nachdem unsere Räder nun einen Monat stillstanden, freuen wir uns, endlich wieder auf Achse zu sein. Mit dem gebastelten Ersatzteil machen wir uns auf den Weg zur Ruta de las Vicuñas und hoffen, dass das Provisorium den rauen Pisten auf dem Altiplano standhalten wird.