Auf der Abfahrt nach Salta tauschen wir unsere Schuhe gegen Sandalen ein und werden diese in den nächsten Wochen nicht mehr ausziehen. Wir sind froh, die raue Hochwüste hinter uns gelassen zu haben und genießen den warmen Fahrtwind.
Wir nutzen den Schwung der Abfahrt, um noch einmal richtig Gas zu geben. Auf den folgenden zweieinhalbtausend Kilometern bis zum nächsten Andenpass, der uns zurück nach Chile bringen wird, radeln wir im Schnitt sechzig Kilometer am Tag. Das sind doppelt so viele wie im letzten halben Jahr in Peru und auf dem Altiplano. Trotzdem sind wir bei Weitem nicht so ausgelaugt.
Das liegt einerseits daran, dass sich der Norden Argentiniens relativ einfach beradeln lässt. Das Terrain ist nicht mehr so anspruchsvoll und die Infrastruktur ist wesentlich besser ausgebaut. Die Hauptstraßen sind asphaltiert, spätestens alle zwei, drei Tage können wir unsere Lebensmittelvorräte aufstocken und – ein völlig neuer Luxus – in fast jedem Dorf gibt es einen offiziellen Zeltplatz.
Andererseits haben wir nun ein konkretes Ziel vor Augen. Seitdem wir in Guatemala unser erstes Etappenziel erreicht hatten, sind wir scheinbar ziellos weiter gen Süden geradelt. Die grobe Richtung genügte uns, um uns tagtäglich zu motivieren und voranzukommen. Frei nach dem Motto: Der Weg ist das Ziel. Doch nun drängt langsam die Zeit und wir müssen eine Entscheidung treffen. Bereits vor einem Jahr in Panama hatten wir angekündigt, dass wir diesen Nordhalbkugelsommer aus pragmatischen Gründen zurück nach Berlin kommen werden. Unklar war bislang jedoch, wo die südamerikanische Etappe unserer Reise enden soll.
Am Anfang war es ein leises Flüstern. Doch je weiter wir nach Süden gekommen sind, desto lauter wurde es: Ushuaia – der Sehnsuchtsort am Ende der Welt. Beinahe täglich werden wir gefragt, woher wir denn geradelt kommen würden. Wenn wir mit Alaska antworten, fragen uns die Menschen am Wegesrand nun immer öfter, ob wir denn „die ganze Strecke“ bis nach Feuerland radeln würden.
Alaska-Feuerland ist ein Klassiker unter den Radreisenden, die auf der langen Meile unterwegs sind. Er genießt ähnlichen Kultstatus wie die Seidenstraße (die wir uns für einen späteren Lebensabschnitt aufgehoben haben 😉 ). Es gibt viele gute Gründe, nicht auf dem Gringo Trail zu bleiben, aber eben auch ein paar, die uns letztendlich dazu bewegen, den Kurs zu halten. Wir wollen das Spiegelbild der Natur auf der südlichen Halbkugel erleben, sprich noch einmal dorthin radeln, wo sich wiederholt, was wir an Alaska so geliebt haben: Die grünen Wälder, die blauen Fjorde und die weißen Gletscher. Am Lagerfeuer wollen wir sitzen und Geschichten über Bären (in Patagonien vielleicht eher Seebären) erzählen. Mit etwas Glück können wir sogar wieder Wale beobachten, die hier unten spiegelverkehrt migrieren.
Wir buchen einen Rückflug von Ushuaia nach Frankreich für Ende April. Noch dreieinhalb Monate bleiben uns, bevor es im patagonischen Herbst kalt und nass wird und wir zur allerletzten Etappe unserer Reise auf dem europäischen Kontinent antreten. Doch noch ist Sommer auf der Südhalbkugel und unsere Gedanken an Alaska schmelzen dahin.
Die Felslandschaft in der Quebrada de las Conchas zieht viele Tourist*innen an. Der motorisierte Verkehr steht im unangenehmen Kontrast zur Einsamkeit des Altiplanos. Wir sind froh, als wir in Cafayate die legendäre Ruta 40 erreichen und sich die Autos langsam ausdünnen. Auf den nächsten neunhundert Kilometern bis San Juan, der nächsten Großstadt, begegnen uns im Schnitt zehn Autos in der Stunde. Lediglich in der Nähe der Ortschaften sind mehr Fahrzeuge unterwegs. Doch die liegen oft siebzig, achtzig Kilometer voneinander entfernt.
Das enge Tal macht einer weiten Ebene Platz. Die trockene, steppenartige Buschlandschaft ist von Sträuchern und Kakteen geprägt. Ab und an unterbricht ein Fluss die Einöde, an dessen Ufer sich die nächste Ortschaft schmiegt. Wenngleich wir in Sichtweite der Anden bleiben, ist die Landschaft bei Weitem nicht mehr so spektakulär. Dafür lässt es sich entspannter radeln. Wir beschweren uns nicht. Nach den peruanischen Anden und dem Altiplano suchen wir gerade keine neuen Herausforderungen.
Die zwei Monate auf der Ruta 40 entpuppen sich als die ereignislosesten unserer ganzen Reise. Langeweile kommt trotzdem keine auf. Die aufregendsten Momente sind unser zwanzigtausendster Kilometer, den wir in San Juan feiern und der vierzigtausendste Kilometer, bei dem sich der Schwalbe Marathon XR an meinem Vorderrad verabschiedet.
Der Reifen wird nicht mehr hergestellt. Über die eher enttäuschende Laufleistung seines Nachfolgers hatte ich bereits berichtet. In den letzten drei Wochen wurden wir in den kleinen Radläden entlang unserer Route immer wieder mit dem Hinweis vertröstet, dass wir in der Radsportmetropole San Juan sicherlich fündig werden. Auf der Einfahrt in die Stadt kommen uns viele Radsportgruppen entgegen, die mit Polizeischutz für die Vuelta a San Juan trainieren. Das internationale Radrennen steht kurz vor seiner Austragung.
Trotz des vielversprechenden Radsportenthusiasmus ist adäquater Ersatz nur schwer zu beschaffen. 26-Zoll-Reifen gelten aufgrund ihrer weltweiten Verfügbarkeit als Referenz am Reiserad. In den modern ausgestatteten Radläden San Juans finde ich jedoch qualitativ hochwertige Reifen nur in 27,5 und 29 Zoll. Die 26er Schlappen gibt es nur in sehr einfacher Ausführung. Erst im fünften Radladen kramt die Verkäuferin einen eingestaubten Reifen aus ihrem Lager hervor, der verspricht, ein paar mehr Kilometer zu halten. Zufrieden hängen wir uns in den Windschatten einer Radsportgruppe und pesen aus der Stadt.
Auf den Rastplätzen am Straßenrand begegnen wir den Argentinier*innen in ihrem Element. Sie holen ihre Kühlbox aus dem Auto, feuern einen der überall im Land verstreuten Grills an und bereiten darauf ihr Fleisch zu. Argentinien ist das erste Land seit Mexiko, in dem eine Fleischkultur gelebt wird. Eigentlich essen wir nicht viel Fleisch, aber auf Reisen haben wir gelernt, zu essen, was auf dem Tisch steht – aus Respekt vor unseren Gastgeber*innen und aufgrund der Notwendigkeit unseren täglichen Energiebedarf zu stillen. Zwischen zwischen Mexiko und Argentinien haben wir jedoch meistens, wenn überhaupt, nur Hühnchen gegessen, weil alles andere Fleisch oftmals erst völlig zerkocht auf dem Teller landet. Die Argentinier*innen wissen hingegen das Fleisch zu schneiden und zuzubereiten. Auf die Spitze treiben sie es mit dem matambre a la pizza. Bei dem „Hungertöter“ wird Fleisch statt Pizzateig mit Tomatensoße und Käse belegt.
Auch auf den offiziellen Zeltplätzen wird tagsüber viel gegrillt. In der Hochsaison treffen sich hier die einheimischen Familien. Abends leeren sich Plätze jedoch und wir sind oft die einzigen Übernachtungsgäste. Wir genießen diese neuen Annehmlichkeiten. Da die Zeltplätze ebenfalls bewässert werden, erleben wir sie als regelrechte Minioasen in dieser eher trockenen Umgebung.
Während die Argentinier*innen grillen und siesta halten, nutzen wir die leeren Straßen. Zwischen 14 und 15 Uhr sind spürbar weniger Autos unterwegs. Die Läden schließen oft sogar für vier Stunden am Nachmittag, sodass wir unsere Einkäufe in den Dörfern entsprechend planen müssen.
Hinter Mendoza wird es wieder einsamer. Die Distanzen zwischen den Dörfern verdoppeln sich auf bis zu hundertfünfzig Kilometer. Ohne Bewässerung kann hier keine Landwirtschaft mehr betrieben werden. Die Sträucher werden immer kürzer und wir wähnen uns in Anbetracht der Landschaft schon kurz vor Feuerland.
Kurz bevor wir offiziell die Region Patagonien erreichen, fordert uns die Ruta 40 doch noch heraus. Ein achtzig Kilometer langer Schotterabschnitt unterbricht das Asphaltband. Sofort müssen Mensch und Material wieder leiden.
Nach drei kräftezehrenden Tagen auf der Schotterpiste, radeln wir auf der Suche nach einem dieser Minioasen-Zeltplätze durch Buta Ranquil. Just als wir feststellen, dass dieser leider geschlossen wurde, holt uns Walter von der Freiwilligen Feuerwehr auf seinem Motorrad ein und lotst uns zurück zu seiner Kaserne. So verbringen wir unsere erste Nacht in Patagonien bei den bomberos.
Einmal mehr drehen sich die Gespräche um die schlechte Ausstattung der Feuerwehr. Bereits in Mexiko und Zentralamerika haben wir viele Geschichten über fehlendes Benzin oder nicht funktionstüchtige Einsatzfahrzeuge gehört. Auch hier in Buta Ranquil müssen die Feuerwehrmänner vieles aus der eigenen Tasche bezahlen. Unglaublicherweise bremst das weder ihre Arbeitsmotivation noch ihre Gastfreundschaft.
Wie als ob jemand den Schalter umgelegt hätte, springt plötzlich die Windmaschine an. Patagonien ist berühmt-berüchtigt für seine Winde, was wir ab dem ersten Tag eindrücklich erfahren dürfen. Heftige Böen zwingen uns immer wieder vom Rad abzusteigen, um nicht von der Fahrbahn geweht zu werden. Die Autofahrer*innen wissen die Kraft des Windes hinter ihrer Scheibe leider allzu oft nicht einzuschätzen und fahren viel zu dicht an uns vorbei. Es gibt aber auch diejenigen, die das Überholmanöver ihres Vorderwagens sehen, anhalten, sich für Fremde entschuldigen und uns Weintrauben schenken, um uns aufzumuntern.
In Las Lajas verlassen wir die Ruta 40 und biegen nach Chile ab. Die Suche nach dem grünen Patagonien treibt uns auf die andere Seite der Anden. Im Wald hoffen wir Zuflucht vor dem Wind zu finden.
Die Riesenbäume sind die ersten Gewächse seit Monaten, die außerhalb von Ortschaften, sprich ohne Bewässerung, so hoch wachsen. Nach tausenden Kilometern durch Hochwüsten, Salzwüsten, Halbwüsten und Steppen freuen wir uns auf unseren ersten richtigen Wald.
Excelente descripciones gracias por la visita a nuestro país Argentina, Bienvenidos y agradecidos eternamente, gracias por mostrarle al resto del mundo de nuestra humildad, sencillez y sociables que somos. Hasta pronto!!
¡Muchísimas gracias por recibirnos! 🙂